Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Weitere Textseiten zur jüdischen Geschichte in Worms  
-  Texte aus dem 19./20. Jahrhundert zur mittelalterlichen und neuzeitlichen jüdischen Geschichte in Worms (diese Seite)   
Texte zu den Rabbinern und Lehrern der jüdischen Gemeinde vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert  
Berichte aus dem jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben im 19,/20. Jahrhundert  
Berichte zu einzelnen Personen aus der jüdischen Gemeinde im 19./20. Jahrhundert  
Zum alten jüdischen Friedhof in Worms ("Heiliger Sand")  
Zum neuen jüdischen Friedhof in Worms-Hochheim     
 
                

Worms (kreisfreie Stadt, Rheinland-Pfalz)
Texte/Berichte zur jüdischen Geschichte der Stadt  
  
Hier: Texte aus dem 19./20. Jahrhundert zur mittelalterlichen und neuzeitlichen jüdischen Geschichte in Worms   

Vorbemerkungen: Die nachstehend wiedergegebenen Texte mit Beiträgen zur jüdischen Geschichte in Worms wurden in jüdischen Periodika gefunden. Sie geben teilweise nicht den aktuellen Forschungsstand wieder, doch ist auch der Forschungsstand zur Zeit der Abfassung von Interesse.  
Bei Gelegenheit werden weitere Texte eingestellt.  
  
Die Texte dieser Seite wurden dankenswerterweise von Susanne Reber (Mannheim) abgeschrieben und mit Links und Kommentaren versehen.  
       
       
Viele der auf der Seite abgedruckten Texte wurden verfasst von dem großen Historiker der jüdischen Gemeinde in Worms, Samson Rothschild, der dieser Seite vorangestellt werden soll.
Für Samson Rothschild (geb. 11. Januar 1848 in Külsheim, gest. 1939 in London; Foto links: Stadtarchiv Worms) wurde in Worms ein "Stolperstein" verlegt (Haus Adenauerring 12), siehe  http://www.warmaisa.de/stolpersteine/rothschild-samson-1848-1939/ Samson Rothschild war Lehrer, zunächst 1868 bis 1872 in Grötzingen, danach ab 1872 in Worms (ab 1874 Hauptlehrer an der städtischen Volksschule bzw. der "Stadtschule Worms" - als erster jüdischer Lehrer im Großherzogtum Hessen an einer städtischen Volksschule -  und Religionslehrer am Gymnasium, aktiv in zahlreichen Ämtern der jüdischen Gemeinde Worms, insbesondere als Gemeindearchivar und Historiker (war befreundet mit dem Stadtarchivar Prof. August Weckerling); verfasste zahlreiche Texte zur jüdischen Geschichte der Stadt und zu allgemeinen Fragen der Stadtgeschichte; bis 1933 eine in Worms ebenso bekannte wie geachtete Persönlichkeit; auch im allgemeinen Leben der Stadt engagiert (Vorstandsmitglied der Musikgemeinschaft und Liedertafel); im Alter von 91 Jahren im Februar 1939 nach London emigriert, wo er am 10. Juni 1939 verstarb.     
   
   
   
 
  
Übersicht:  

bulletAllgemeine Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinde vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
-  Über die sagenhafte erste jüdische Ansiedlung in Worms (Beitrag von 1866) 
-  Die Judenverfolgungen in den Städten Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096, während des ersten Kreuzzuges - mit Übersetzung eines mittelalterlichen Berichtes des Elieser ben Nathan Halevi aus Köln (Beitrag von Moses Mannheimer, 1876)   
Fortsetzung des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 2)  
Fortsetzung des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 3) 
Erklärung des Komitees zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)  
Zum Stand der Bemühungen zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)   
Spendenliste für Beiträge zur Renovierung der jüdischen Altertümer sowie Artikel über "Raschi's Anwesenheit in Worms" (1853)  
Über die jüdische Gemeinde in Worms - Bildung einer orthodoxen Religionsgesellschaft auf Grund der Orgel in der Synagoge (Artikel von 1871) 
Über die jüdische Gemeinde in Worms (Beitrag von 1885) 
Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim'-Buch (I. Die Geschichte von den zwei Gästen, 1892)      
-  Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (II. Die Familie Dalberg, 1892)  
-  Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (Die Zaubergans, 1893) 
Zur Geschichte der Juden von Worms und Speyer (Artikel von 1897)   
Zur Geschichte der Juden in Worms - Buchbesprechung (1900) 
Zur Geschichte der Juden in Worms (I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen, II. Wormser Flüchtlinge, a) Meir Eisenstadt; Artikel von 1900)   
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, b) Isack Blin; Artikel von 1900) 
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. c) Elieser Libermann; Artikel von 1900) 
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. d) Samuel Sofer, e) Manlin See; Artikel von 1900)
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. f) Rafael Durlach, g) Samuel Schwob, h) Jehuda Löb Menz; Artikel von 1900)   
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, Schluss; Artikel von 1900)  
Hinweis auf einen publizierten Vortrag von Benas Levy über die Juden in Worms (1914)  
Vorstellung des Buches von Samson Rothschild über "Die Abgaben und die Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563-1854" (1926)   
Gedenkfeier: 200 Jahre Zerstörung der Stadt durch die Franzosen im Jahr 1689 (1889) 
Zur Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde (1911) 
G
edruckter Vortrag über "Die Juden in Worms" von Benas Levy (1914)   
Über die Wormser Juden während der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen 1689 (Artikel von 1925)  
Über ein Kollektenbüchlein von 1698 mit einem Spendenverzeichnis für den Wiederaufbau des 1689 zerstörten Worms (Artikel von 1891)  
Über den Wormser Judenrat im 17. Jahrhundert (Artikel von 1938)  
Aus einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert: Besuch im jüdischen Worms (1885) 
Im Nationalmuseum in Washington befinden sich auch Gegenstände aus Worms (1890) 
Zum 300-jährigen Bestehen der Raschikapelle (1924)   
Fahrt des Jüdischen Turnerbundes aus Frankfurt nach Worms (1927) 
Zu Besuch in Worms (1929)  
Ausflug von Frankfurt auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)   
Leserbrief zum Bericht auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)   
In Worms wurde eine zweite mittelalterliche Mikwe freigelegt (1930)   
Über eine Worms-Fahrt der Vereinigung ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Samson Raphael Hirsch-Schule Frankfurt (1931)  
Neue Publikation zur Geschichte der Stadt Worms (1932/1934)   
Artikel über "Das jüdische Worms und seine Sehenswürdigkeiten" (1933)   

   
   
Allgemeine Berichte zur Geschichte der jüdischen Gemeinde vom Mittelelter von zum 18. Jahrhundert      
Über die sagenhafte erste jüdische Ansiedlung in Worms (Beitrag von 1866)
  
Anmerkung: mehrere Sagen berichten von ersten Ansiedlungen von Juden in Worms zur römischen Zeit oder sogar noch davor. Es ist zwar durchaus möglich, dass in dem bereits zur Römerzeit bedeutenden Ort Juden lebten, doch gibt es keine schriftlichen Nachweise. Die nachfolgende Sage ist dem ca. 1865 erschienenen Buch von August Hermann Bernard: Eine Sammlung von Rhein-Sagen entnommen. Erschien in 2. Auflage in Mainz ca. 1865.   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 13. Juni 1866:  "Die erste jüdische Kolonie zu Worms. 
(Aus A. H. Bernard's 'Rheinsagen').  Unter den römischen Truppen, welche Jerusalem zerstörten, befand sich auch ein Herr von Dalberg, dessen Stammschloss in Hernsheim bei Worms noch heute von den Nachkommen bewohnt wird. - Freilich ist dasselbe im Laufe der Zeit nach und nach umgebaut, vergrößert und verschönert; doch für das Folgende ist der Ort genügend, da die Sage sich nicht an das Schloss und dessen Schicksale bindet. Obengenannter Dalberg war Centurio und empfing als Beuteanteil nach dem Sturme eine Anzahl jüdischer Gefangenen, welche er nach seiner Heimat verbringen ließ, dass sie sich daselbst ansiedelten. Es waren dieses die ersten Juden in Deutschland.  
Schmerzlich war der Abschied der durch das leidige Kriegsunglück ihrer Habe und Heimat Beraubten. - Um jedoch nicht allen Erinnerungen an letztere entbehren zu müssen, füllten sie in frommer Verehrung Säcke mit Erde und nahmen diese als heilige Reliquien in die Fremde mit, auf dass nach ihrem Tode die Heimaterde wenigstens ihren Leib aufnehme.  
Unter den Fortgeführten zeichnete sich ein Greis aus, der an der Hand seiner lieblichen und in reiner Unschuld strahlenden Tochter in die traurige Fremde wankte. - Er war ein weiser Mann, von starkem Gottvertrauen, und er, wie seine Tochter, flößten mit Rat und Tat den jammernden Glaubensgenossen neuen Mut und Hoffnung ein, durch Hinweisung auf die Allmacht Gottes.  Einen schöneren Gegensatz, als den Greis an der Hand der Jungfrau, konnte man sich nicht denken; es war, als wandle der gereifte Herbst an der Hand des keimenden Frühlings, und so ehrfurchterweckend war die heitere Ruhe, die Beide umgab, dass selbst die Kriegsknechte während der langen Fahrt freundlicher wurden und ihre rohen Scherze zurückhielten.          
Worms Israelit 13061866b.jpg (280564 Byte)Nicht lange nach der Ankunft der Juden in Worms traf Dalberg ebenfalls daselbst ein, um auf seinem Stammgute sich von den Strapazen des jüdischen Krieges zu erholen. - Bei dieser Gelegenheit kamen die Nachbarn und Freunde, um seine Erlebnisse und diejenigen des Heeres aus seinem Mund zu vernehmen, und Jagden, Bankette und Unterhaltungen aller Art wechselten im reichen Kranze ab.  
Unter den Gästen, welche sich am häufigsten auf dem Schlosse des Centurio bemerklich machten, war ein römischer Kriegsmann, der einer in Mainz zur Grenzwacht gegen die Deutschen stationierten Kohorte zugeteilt, reich und angesehen und mit Dalberg schon seit längerer Zeit innigst befreundet war. Er war ein Lebemann erster Klasse und sah nicht sobald die schöne und durch das Kriegsunglück Interesse erweckende Jüdin, als er auch sofort überlegte, wie er am besten in ihren Besitz sich setzen könne. 
Sie Dalberg abzukaufen, ging nicht an, da derselbe hiervon nichts wissen wollte. Ein Mittel blieb ihm nur, sie zu entführen, und er hatte kaum daran gedacht, als er auch schon entschlossen war, es anzuwenden. 
In der Nähe von Mainz in einem dichten Forste versteckt, bereitete er einen Zufluchtsort, ritt dann gegen Worms, wo er unerkannt der Jungfrau nachspähte, und als sie einmal Wasser schöpfte, sie ergriff und trotz ihres Stäubens, mit ihr auf das Pferd sprang und davon jagte. 
Nichts sparte der Römer, um das Mädchen sich geneigt zu machen. Zärtliche Worte und prächtige Geschenke wechselten ab, aber nichts konnte sie veranlassen, von dem Pfade der Tugend abzuweichen, und immer mehr und mehr härmte sie sich in Sehnsucht nach ihrem Vater ab. 
Der Römer, den des Mädchens Starrsinn, wie er es nannte, endlich anfing ungeduldig zu machen und der auch von den Nachforschungen wusste, die man nach der Entführten anstellte, beschloss eines Abends, in Güte oder mit Gewalt zum Ziele zu kommen. 
Aus einer lustigen Bacchanalie, die er mit einigen Freunden gefeiert hatte, eilte er weinselig zu seiner Gefangenen und begann wieder seine Lockungen, die aber ebenso wie alle anderen zurückgewiesen wurden.  
'Du entgehst mir doch nicht, kleine Spröde', lachte er, aufgeregt von Wein und Leidenschaft, haschte sie und suchte ihre Lippen mit seinen Küssen zu bedecken; das Mädchen aber entrang sich ihm und als er immer mehr und mehr aufgeregt sie zu bestürmen fortfuhr, wobei seine Leidenschaft sich drohend erhitzt, warf sie sich auf die Knie und rief Gott zum Schutze an.  
 'Zum Orcus mit deinem....' - rief der Römer. 'Mein musst du sein und sollte der Himmel brechen.' Er warf sich hierbei auf die Widerstandslose und wollte eben mit rohen Händen sie ergreifen, als unter grollendem Getöse ein flammender Sein niederstürzte und ihn tödlich traf.  Das Mädchen war gerettet, doch als sie das Werkzeug der Rettung staunend ansehen wollte, strahlten ihr von demselben die Züge des heiligen Gottesnamens in so herrlichem Glanze entgegen, dass sie erblindet.   
Dalberg und ihr Vater fanden endlich die erblindete, aber durch die Prüfung nur noch lieblicher gewordene Jungfrau, und als man aus ihrem Munde den Sachverhalt vernahm, staunten sie und schauten den Stein voll Ehrfurcht an, in dem der heilige Gottesname in hebräischer Sprache eingegraben stand, aber ohne den Glanz, der das Mädchen geblendet hatte.  
Die Geprüfte und ihr greiser Vater starben wenige Monden nach diesem Vorfalle kurz nacheinander. Sie waren die Ersten, welche in den heimatlichen Boden bestattet wurden.  
Der Stein aber soll später die Decke der Synagoge in Worms geschmückt haben.  
Bemerkenswert ist, dass noch heute auf der Begräbnisstätte der Juden in Worms ein Platz vorhanden ist, an dem die aus Juda mitgebrachte Erde aufgeschüttet sein soll."     

    
Die Judenverfolgungen in den Städten Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096, während des ersten Kreuzzuges - mit Übersetzung eines mittelalterlichen Berichtes des Elieser ben Nathan Halevi aus Köln (Beitrag von Moses Mannheimer, 1876)    
Anmerkung: der Beitrag von Moses Mannheimer wurde später nochmals aufgelegt, vgl.  https://www.amazon.de/Judenverfolgungen-Speyer-W%C3%A4hrend-Ersten-Kreuzzuges/dp/0332483851    

Speyer AZJ 09051876a.jpg (348256 Byte)Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 9. Mai 1876: "Die Judenverfolgungen in den Städten Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096, während des ersten Kreuzzuges.
Aus einem hebräischen Manuskripte übertragen von Moses Mannheimer, emeritierter Rabbinatsverweser in Darmstadt
Die Geschichte der Kreuzzüge ist bis jetzt noch nicht vollständig nach allen ihren Beziehungen aufgehellt, so sehr auch emsige Forscher bemüht waren, alles einschlägige, ihnen zu Gebote stehende Material zu sammeln, zu sichten und daraus ein vollständiges, alles Bedeutsame umfassendes Bild zu schaffen. Am wenigsten ist dies aber der Fall bei demjenigen Teile derselben, der die Judenverfolgungen betrifft, ungeachtet Letztere große blühende Gemeinden mit barbarischer Grausamkeit gänzlich vernichteten und auch mit den allgemeinen politischen Verhältnissen Deutschlands in einigem Zusammenhange standen. Im Mittelalter hat die mündliche Überlieferung die Stelle der Aufzeichnung versehen. Sie hat in Familien und Gemeinden wie Taten und Begegnisse der Väter, einige Generationen hindurch, frisch und lebendig erhalten, bis sie sich allmählich trübte und dann erlosch. Das Aufzeichnen derselben und das hinlänglich wiederholte Abschreiben des Aufgezeichneten war nicht allgemein verbreitet, nicht genug im Gebrauch und Übung; daher fließen die Geschichtsquellen von damals außerordentlich dürftig. –
Von den rubrizierten (= katalogisierten, aufgezeichneten) Verfolgungen der damals bedeutendsten jüdischen Gemeinden waren kaum einige fragmentarische Berichte zu uns gelangt. Nur eine eigentlich interne Geschichtsquelle ist uns aufbewahrt geblieben, das ist die von Dr. Jellinek (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Jellinek) zum ersten Male (Leipzig 1854) edierte Konteros tatnu (Anmerkung 1) 'Bericht über die Leiden des Jahres 1096' von Elieser ben Nathan Halevi aus Köln (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Eliezer_ben_Nathan). Da jedoch der Verfasser in Köln wohnte, so hat er über die dortige Verfolgung, deren Augenzeuge er war, ausführlicher berichtet als über die, welche in Speyer, Worms und Mainz stattgefunden hat. Hinsichtlich dieser Städte, die noch den ersten Anprall der vertierten Blutmenschen auszuhalten hatten, ist sein Bericht lückenhaft. Auch die Poetanen (Anmerkung 2) (Poeten), die in synagogalen Dichtungen die Leiden der Gemeinden und ihren darüber empfundenen tiefen Schmerz ausdrückten, konnten doch nur für ihren Zweck einzelne Züge aus der Reihe der Begebenheiten hervorheben, und da dieselben in ein poetisches Gewand gekleidet waren, so konnte der Leser oder Beter leicht versucht sein, in ihnen anstatt Wahrheit nur hyperbolische Redefiguren zu erblicken. – Unter diesen Umständen muss es uns willkommen sein, wenn hier und da noch irgendein altes Manuskript zum Vorschein kommt, das uns von Details Kunde bringt, die uns bis jetzt nicht bekannt waren, und die zur Berichtigung und Ergänzung der historischen Darstellung einen Beitrag liefern. Zu einem solchen bin ich dieser Tage gelangt. Dasselbe enthält in hebräischer Sprache einen ziemlich ausführlichen Bericht über die 1096, während des ersten Kreuzzuges in Speyer, Worms und Mainz, stattgefundenen schrecklichen Judenverfolgungen und ich fühle mich verpflichtet, denselben, ins Deutsche übertragen, in dieser geschätzten Zeitung der Öffentlichkeit zu übergeben. Dieses Manuskript befindet sich im Besitze der Großherzoglichen Hofbibliothek (Anmerkung 3) dahier. Vor kurzem hatte Herr Hofbibliothekar Dr. Maurer die Güte, mich darauf aufmerksam zu machen. Es bildet ein aus ungefähr 100 Pergamentblättern zusammengeheftetes Buch, im Quartformat; ohne Einband. Der Anfang, darunter das Titelblatt, fehlt. Es scheint durch einen Brand geschädigt worden zu sein. – Den Namen des Verfassers sowie die Zeit, wann er gelebt hat, habe ich bis jetzt noch nicht genau ermitteln können. – Die darin behandelten, verschiedenen Materien scheinen übrigens verschiedenen Verfassern (Anmerkung 4) zu verschiedenen Zeiten anzugehören. – Die ersten 11 Blätter enthalten scharfsinnige Dezisionen, verbunden mit kurzen Erörterungen über die jüdischen Trauergebräuche, wie diese nämlich in besondern Verhältnissen und Umständen anzuwenden seien; die folgenden 4 Blätter umfassen eine Betrachtung über den damals erwarteten Messias und den Krieg des Gog Magog (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gog_und_Magog) und daran schließt sich auf den nachfolgenden 4 Blättern der Bericht über die Verfolgungen während des ersten Kreuzzuges. Die auf diesen 19 Blättern angewandte und sich stets gleichbleibende Schriftart ist eine ganz eigentümlich aus mehreren Schriftarten zusammengesetzte. Manche Buchstaben haben die Form der Quadratschrift (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratschrift  (ktaw meruba = Quadratschrift) , andere kommen der sogenannten Kurrentschrift (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift) sehr nahe, bildeten vielleicht ehedem einen Übergang zu dieser. – Ich werde nun mit der Wiedergabe des Inhalts des Berichts beginnen; jedoch werde ich alle darin vorkommenden, wenn auch mit den stattgefundenen Gräueltaten entschuldbaren Ausdrücke übergehen.-
Im Jahre 1028 (Anmerkung 5) nach der Zerstörung des Tempels kamen Verhängnisse über Israel. Es erhoben sich nämlich in Frankreich Herren, Ritter, Grafen und Fürsten, und das gemeine Volk, und berieten sich zusammen und fassten den Entschluss, sich kämpfend Bahn zu machen und nach Jerusalem zu wallen, zum Grabe Christi. – Und sie sprachen zueinander: 'Seht, wir wagen unser Leben, um zu streiten mit Königen der Erde, und zu morden und zu zertrümmern solche Reiche, die nicht an Christus glauben – seht doch, da die Juden, die ihn gekreuzigt haben – entweder sie müssen sich zu ihm bekennen oder wir vertilgen sie von Kind bis Säugling.' (Anmerkung 6). Und sie hefteten das Zeichen des Kreuzes an ihre Kleider (Anmerkung 7) und setzten Helme auf. – Und als dies die Gemeinden in Frankreich hörten, wurden sie von Entsetzen ergriffen. Sie sandten sofort Boten mit Briefen an die Gemeinden in den Rheingegenden, dass sie noch fasten und den, der in der Höhe thront, bitten möchten, dass er sie     
Speyer AZJ 09051876b.jpg (376674 Byte)retten wolle aus der Hand ihrer Verfolger. Und als ein solches Schreiben bei den gottesfürchtigen berühmten Männern in Mainz (Anmerkung 8) anlangte, schrieben sie den jüdischen Gemeinden Frankreichs folgende Antwort: 'Alle Gemeinden (nämlich am Rhein) haben Fast- und Bußtage angeordnet. Wir tun das Unsrige. Gott möge Euch retten aus aller Not und Bedrängnis. Wir sind Euretwegen sehr in Ängsten. Was jedoch uns anbelangt, so haben wir kaum etwas von der Sache gehört.' (Anmerkung 9) Und als die Irrenden (Anmerkung 10)anfingen, hereinzukommen in dieses Land (Anmerkung 11), da verlangten sie Geld, um Brot zu kaufen. Wir gaben es ihnen. Wir dachten über uns nach - betrübten (Anmerkung 12) sie doch den König überall und lebten! All dies half uns aber nichts – unsere Sünden verursachten es - denn die Städter (Anmerkung 13) in jener Stadt, wohin die Irrenden kamen, reizten diese wider uns auf, standen ihnen bei, um Weinstock und Wurzel auf dem ganzen Wege bis Jerusalem auszurotten. – Als nun eine sehr große Schar der Irrenden angelangt war, da sprachen einige der Herren (Vorgesetzte, Ritter, Grafen etc.), welche in diesem Königreich sich befanden: 'Warum bleiben wir so müßig? Lasst uns mit ihnen ziehen! Denn ein Jeder, der diesen Weg geht und sich den Strapazen und Mühen der Reise unterwirft, um zum Grabe des Nazareners zu gelangen, ist zur Seligkeit im Paradiese bereit und bestimmt.' Und die versammelten sich, die Irrenden und sie (die Städter), sowohl Herren als gemeines Volk aus verschiedenen Provinzen, bis sie so viel als Sand am Meer waren, und ließen bekanntmachen: 'Wer einen Juden tötet, dessen Sünden sollen vergeben sein.' – Auch ein Pechach (Anmerkung 14) (Ritter, Graf, Bischof etc.) war da, der Dithmar (Anmerkung 15) hieß. Dieser sagte, er gehe nicht aus diesem Königreiche hinaus, bis er einen Juden getötet hat, nur dann werde er gehen seines Wegs. – Und es geschah als die Gemeinde zu Mainz dieses alles hörte, das schrien sie gewaltig zu Gott, verbrachten Tag und Nacht im Fasten und Beten, auch Klagelieder rezitierten sie, und dennoch hat sich Gottes Zorn nicht von uns gewandt. Vielmehr kamen die Irrenden mit ihren Zeichen herbei, stellten sich vor unsern Häusern auf, und erblickten sie einen von uns, liefen sie ihm nach und stachen ihn mit Spießen, sodass wir nicht mehr unsre Türschwelle zu überschreiten wagten. – Und es geschah am 8. des Monats Adar (Anmerkung 16), an einem Sabbath, da fing das schreckliche Verhängnis uns zu treffen an. Da standen nämlich die Irrenden und die Städter zuvörderst gegen die heiligen Männer der Gemeinde Speyer auf. Sie fassten den Entschluss, die Juden alle in der Synagoge zu ergreifen und als sie sahen, dass ihr Ratschluss vereitelt war, indem die Juden in der Frühe die Synagoge besucht, daselbst eilends gebetet und sie schnell verlassen hatten, da fielen sie über dieselben außerhalb der Synagoge her und töteten 11 Personen. Als aber der Hegemann (Anführer, Herr, Bischof) Johann (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_I._(Kraichgau)) es hörte, kam er mit Mannschaft herbei, um der Gemeinde Hilfe zu leisten. Viele Juden brachte er in seine Gemächer, um sie vor der Mörderbande zu schützen. Einige von den Städtern (Anmerkung 17) ließ er ergreifen und ihnen die Hand abhauen. Durch ihn hat uns Gott Rettung gebracht. Auch lebte daselbst ein Gemeindevorsteher: Rabbi Moses ben Jekuthiel. Dieser setzte sein Leben für seine Brüder ein und bewirkte, dass die zur Taufe Gezwungenen, welche noch hier und da im Königreiche Heinrichs vorhanden waren, zu ihrer Religion zurückkehrten. Und auf Anordnung des Königs hat der Bischof Johann sie in Burgen, feste Plätze gebracht, bis die Feinde Gottes vorüber waren. Daselbst fasteten, weinten und beteten sie stets; sie waren auch ihres Lebens überdrüssig; denn täglich sammelten sich ihre Feinde – und Emmichen (Anmerkung 18, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)) war bei ihnen - um sie zu ergreifen und sie auszutilgen (Anmerkung 19)- Also durch von Bischof Johann, der keine Bestechung annahm, dessen Herz vielmehr Gott erfüllte – er war ein sehr frommer Mann – brachte Gott uns Rettung.
Anmerkungen des Einsenders
1) TTNW: Diese 4 hebräischen Buchstaben bedeuten als Zahlzeichen 856, d.h. das 856ste Jahr des fünften Jahrtausends nach Erschaffung der Welt, das ist 1096 n. Chr.
2) In der Klag- und Bußliedersammlug (Selichot) rührt die bekannte Selicha (hebräisch und deutsch:) 'Die Stimme ist Jakobs Stimme' von Kalonymos ben Jehuda (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden) her. Da es aber 2 Kalonymos ben Jehuda gab, einen in Mainz und einen in Speyer, so ist's nach Ansicht des Herrn Dr. Grätz zweifelhaft, wer von beiden der Verfasser dieser Selicha sei. Da aber in dem von mir entdeckten Manuskript der Mainzer Vorgänge solche eigentümlichen Bezeichnungen von Jammerszenen vorkommen, die sich wörtlich in der erwähnten Selicha wiederfinden, so ist es mir fast gewiss, dass Letztere die Klagetöne und Seufzer eines Leidensgenossen und Augenzeugen in Mainz enthält und einen solchen zu ihrem Urheber hat.
3) Die Großherzogliche Hofbibliothek (heute Stadtbibliothek Worms) dahier ist eine der größten Deutschlands. Ihre Verwaltung ist gegenwärtig unter der ein- und umsichtsvollen Direktion des Herrn Geheimrat Dr. Walter eine ausgezeichnete. Die Anschaffung neuer Werke wird allen Gebieten des Wissens, auch dem rabbinisch-talmudischen, gebührende Rechnung getragen.
4) Die Dezisionen können nicht früher als gegen das Ende des 13ten Jahrhunderts verfasst worden sein; denn ihr Verfasser zitiert außer anderen Autoritäten aus der Tosaphisten-Schule (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tosafot) auch den berühmten Rabbi Meier ben Baruch aus Rothenburg, bekannt unter dem Namen Maharam. Er führt nur seine mündlichen Aussprüche an und scheint ein Schüler von ihm gewesen zu sein. Rabbi Meiers Lehrhaus blühte aber erst in der zweiten Hälfte des 13ten Jahrhunderts; er wurde 1286 nach dem Schloss Ensisheim im Elsass gebracht, wo er in Gewahrsam blieb, bis er 1293 starb; seine Leiche wurde aber erst 1304 nach Worms gebracht und dort begraben. Bei Abfassung der Dezisionen war Rabbi Meïer schon gestorben, denn der Verfasser fügt bei dessen Namensnennung immer (Hebräisch) hinzu, womit man nur einen Toten ehrte. - Dass er das von Ascher ben Jechiel, Rabbiner zu Toledo (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ascher_ben_Jechiel) (starb 1327) verfasste Hauptwerk für talmudische Gesetzeskunde, bekannt unter dem Namen Rosch nicht kannte, geht daraus hervor, dass er ihn nie anführt, was jedoch nicht auffällig sein kann, wenn man erwägt, dass 50 Jahre nach dem Tode des  
Speyer AZJ 09051876c.jpg (385492 Byte)Rabbi Ascher, dessen Schriften noch etwas Seltenes in den Rheingegenden waren (Leopold Zunz: Zur Geschichte und Literatur, S. 211 Link zur Seite). – Der Verfasser der Betrachtung über den Messias kann spätestens, da er die Ankunft desselben noch vor Ablauf des 5ten Jahrtausends nach Erschaffung der Welt erwartete, im Anfange des 13ten Jahrhunderts gelebt haben. Wann der Verfasser des Berichts über die Verfolgungen gelebt hat, lässt sich nicht genau bestimmen.- Die Schrift dieser drei verschiedenen Geisteszeugnisse kann nur, da sie sicher vor einer und derselben Hand herrührt, entweder vom Verfasser der Dezisionen oder, was mir wahrscheinlicher ist, von einem Abschreiber (Kopisten) geschrieben worden sein.
5) Hier ist wieder ein Beispiel, dass im Mittelalter öfters nach der Tempelzerstörung gezählt wurde. Die Vermutung des Herrn Dr. Grätz (Geschichte der Israeliten, Band IV), dass das rätselhafte 2. Datum an der Synagoge zu Worms, welches die Erbauung derselben in das Jahr 946 verlegt, von der Zerstörung des Tempels an gerechnet wäre, ist demnach wohlbegründet.
6) Im Hebräischen ist dies ein bildlicher Ausdruck in der Bedeutung von Alles. In der Tat aber schonten die Unmenschen auch die Säuglinge nicht. In Schlossers Weltgeschichte Band V wird von den Kreuzfahrern, welche am 15. Juli 1099 Jerusalem eroberten, berichtet: 'Die ganze Nacht hindurch wurden die Moslemen gewürgt. Man metzelte alle Ungläubigen nieder und schonte nicht einmal die Säuglinge.'
7) Schti waErew habe ich mit Kreuz übersetzt. Wörtlich heißt Schti Aufzug (Zettel) und Erew heißt Durchschlag. Das Bild ist vom Gewebe hergenommen und bezeichnet etwas, das sich kreuzt. Talmud Chullin 109b (hebräisch und deutsch:) 'Er zerreißt es (das Herz) in Länge und Breite.'
8) Seit Anfang des elften Jahrhunderts wurde Mainz als der Sitz talmudischer Gelehrsamkeit angesehen. Diesen Ruf hatte es wesentlich den ausgezeichneten Leistungen des eine lange Reihe von Jahren daselbst in Wort und Schrift lehrenden Rabbi Gerschom ben Jehuda (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) zu verdanken, den man die Leuchte des Exils nannte, um anzudeuten, wie viel man ihm zu verdanken habe. Die von ihm gegründete Talmudschule wurde auch von Raschi besucht. Von seinen Anordnungen, die zu allgemeinen Annahmen gelangten, waren 3 besonders wichtig: 1) die gänzliche Abschaffung der Polygamie, eine Verordnung, welche auch die mosaische Levirats-Ehe (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Levirat) berührte; 2) dass eine Frau ohne ihre Einwilligung der Scheidebrief (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Scheidebrief) nicht behändigt werden dürfe, und 3) das Briefgeheimnis, welches zu brechen bei Strafe des Bannes verboten war. Dies ist umso notwendiger gewesen, als damals die Briefe durch Boten übermittelt wurden.-
9) Diesen den Ereignissen vorangegangene und den damaligen Verhältnissen angemessene Briefwechsel zwischen Mainz und den bedrohten Gemeinden ist, meines Wissens, noch in keinem anderen Berichte erwähnt worden.
10) Hato'im Die Irrenden. So pflegten die Juden des Mittelalters die Kreuzritter zu nennen. Leopold Zunz, Zur Geschichte und Literatur, S. 182 (Link zur Seite), übersetzt 'die Herumirrenden', wahrscheinlich von ihrem unsteten Umherziehen. Mir scheint es aber, dass man dabei auch an ihre irrigen Ansichten und Neigungen dachte, daher übersetze ich 'die Irrenden'.
11) Damals begriff man unter dem Lande Lothringen auch noch die Gegenden des linken Rheinufers und die Gelehrten in Speyer, Worms und Mainz nannte man die Gelehrten Lothringens.
12) Die Stelle lautet: Awru et melech wechiu. Sie ist schwierig, scheint aber folgenden Sinn zu haben: Im damaligen heftigen Streit zwischen dem Papst Urban II. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Urban_II.) und König Heinrich IV von Deutschland (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)), haben solche gewiss das Kreuz nicht genommen, welche Letzterem treu gesinnt waren. Lag doch dem Papste bei seiner an die Völker ergangenen Aufforderung, einen Kreuzzug gegen die Sarazenen zu unternehmen, die offenbare Absicht am Herzen, die Völker unter päpstlicher Hierarchie zu vereinigen und dadurch die Macht des Königstums zu schwächen! - So finden wir denn auch, dass die ihm Jahre 1091 der jüdischen Gemeinde zu Speyer vom König Heinrich IV ausgestellte, den Juden höchst günstige Urkunde von der kreuzzüglerischen Schar verhöhnt und missachtet wurde.- Unsre Stelle will demnach fragen, sie konnten den König missachten, ohne das Leben zu verwirken.-
13) Ironim Stadtbewohner, Städter. Der Verfasser hat von Ir (= Stadt) ein Denominaticum gebildet, wie von Schilo - Schiloni. - Doch hat sich nur ein Teil der Städter mit den Kreuzzüglern verbunden, das räuberische Gesindel; die andern blieben gleichgültig oder standen öfters den Juden noch bei. Woher hätte denn der Bischof Johannsen die Mannschaft erhalten können, mit welcher er gegen die Angreifenden einschritt, als aus der Mitte der Städter?
14) Pächa heißt eigentlich Statthalter, der Verfasser scheint aber Ritter, Grafen etc. so benannt zu haben, wie sie meistens ihre Besitzungen zu Lehen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Lehnswesen) hatten, demnach als Statthalter angesehen werden konnten.
15) Die Geschichte der Kreuzzüge erzählt nichts von einem Dithmar, demungeachtet kann derselbe noch existiert und das getan haben was hier berichtet wird. Einen Adhemar von Puy (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adhemar_de_Monteil) gab es, der zuerst auf der Versammlung zu Clermont das Gelübde des Kreuzes ablegte und könnte hier ein Schreibfehler eingeflossen sein. - Es ist merkwürdig, dass sowohl in diesem wie in manchem anderen jüdischen Berichte nichts von Peter von Amiens (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_der_Einsiedler) erwähnt wird. Sollte dies nicht, wenn auch nur eine sekundäre Bestätigung der Behauptung des Herrn Heinrich von Sybel in seiner Geschichte des ersten Kreuzzuges sein, dass nämlich die Erzählung, Peter von Amiens habe zuerst den Papst Urban II. und dann die Völker zur Unternehmung des Kreuzzuges aufgerufen, nur eine Sage sein, die der geschichtlichen Wahrheit entbehre? Man wollte die Askese verherrlichen und an dem Eremiten Peter zeigen, wessen sie gewürdigt werde und welche Taten sie zu vollbringen im Stande sei. – In Wahrheit aber sei es der Papst gewesen, der den Impuls zu diese großen Völkerbewegung gegeben habe. – Herr Dr. Grätz hat in seiner Geschichte der Juden (Band IV, S. 95) die gewöhnliche Meinung über Peter von Amiens beibehalten.
16) Hier steht bejom chet bechodesch adar bejom haschiwa, während nach Grätz im Berichte des Rabbiners Elieser Ijar steht (sc. zwei unterschiedliche Monatsangaben). Möglich, dass hier ein Schreibfehler vorhanden ist.
17) Nach Grätz waren es Wallbrüder, nach unserem Berichte aber Städter, die Bischof Johann bestrafen ließ. Die Angabe unseres Berichts ist wahrscheinlicher, indem über die Wallbrüder der Bischof schwerlich eine Jurisdiktion besessen hat.
18) Lehaschmid otam kann ebenso gut bedeuten: 'Sie zu töten', als durch Verlassen ihrer Religion sie aus der Gemeinde 'zu tilgen'.
19) Dieser Emmichen oder Emigo, Graf von Leiningen war ein gewissenloser, blutdürstiger Wüterich. (Fortsetzung folgt) .   

   
Fortsetzung des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 2)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 16. Mai 1876: "(Fortsetzung)
Und es geschah, als in Worms die Nachricht angelangt, dass ein Teil der Speyer’schen Gemeinde getötet worden war, da schrien sie zu Gott und weinten bitterlich; denn sie sahen ein, dass vom Himmel ein böses Verhängnis über sie beschlossen, dem sie nicht ausweichen konnten, weder nach vorwärts noch nach rückwärts. Und die Gemeinde teilte sich in zwei Abteilungen: Die einen flohen zum Bischof (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_I._(Kraichgau)), in dessen Schlösser und Burgen, und die anderen blieben in ihren Häusern, vertrauend auf die Zusicherung der Städter, die zu ihnen gesagt hatten: 'Fürchtet Euch nicht vor ihnen (den Kreuzfahrern); denn wer einen von Euch tötet, der werde mit dem Leben bestraft.' Allein die Versicherungen der Städter waren Worte der List und Falschheit, geknicktem Rohre gleich, das die Hand beschädigt, die sich darauf stützt. Sie standen den Herumirrenden bei, um uns Namen und Überrest auszutilgen. Auch entfliehen ließen sie sie (die Jehudim = Juden) nicht; denn die Mitglieder (Anmerkung 1) der Gemeinde hatten ihnen ihr Gold zur Aufbewahrung gegeben, darum haben diese sie überliefert (gemeint: ausgeliefert; nämlich den Wallfahrern). –
Und es geschah am 10. Ijar (Anmerkung 2) = 5. Mai 1096, an einem Sonntag, da fassten sie listige Anschläge. Sie holten einen schon 30 Tage lang begrabenen Leichnam herbei, trugen ihn in der Stadt umher und riefen aus: 'Seht, was die Juden in unserer Nachbarschaft getan haben! Sie haben einen Christen im Wasser gebrüht und dasselbe in unsere Brunnen geschüttet, um uns zu töten.' Und als die Umherirrenden und Städter dies hörten, da erhoben sie einen gewaltigen Lärm, versammelten alle Waffentragenden und sprachen: 'Jetzt ist die Zeit gekommen, den zu rächen, den ihre Väter gekreuzigt haben. Nun soll keiner von ihnen übrig bleiben, selbst Säuglinge nicht in ihren Betten (Wiegen).' Und sie drangen in die Häuser und erschlugen die, welche sich darin befanden: Greise und Greisinnen, Jünglinge und Jungfrauen, sogar Knechte und Mägde. Alle ließen sich töten, zur Heiligung des göttlichen Namens, des furchtbaren und ewigerhabenen, der da herrscht in der Höhe und in der Tiefe. Er war und ist, ewiger Zebaoth ist sein Name. Er ist gekrönt mit den Regeln (Gesetzen) der 72 Namen (Anmerkung 3). Er schuf die Thora 974 Geschlechter (Zeitalter) vor der Erschaffung der Welt. Und 20 Geschlechter vergingen von der Erschaffung der Welt an bis auf Moses, den Vater der Propheten, durch welchen die heilige Thora uns geworden ist. Und dieser Moses war herbeigekommen und hat in dieselbe hineingeschrieben: 'Dem Ewigen hast du kundgetan, sein Volk bleiben zu wollen.' Auf ihn und seine heilige Thora wurden sie wie Ochsen geschlagen und auf öffentlichen Plätzen und in Straßen umhergeschleift, wie Schafe zur Schlachtbank geschleift werden. Sie lagen da nackt, denn sie (ihre Mörder) hatten sie entkleidet und nackt liegen lassen. -
Als nun die Übriggebliebenen ihre Brüder nackt und die Töchter Israels, die züchtigen und verschämten, nackt da liegen sahen, da sprachen einige von ihnen, der schrecklichen Not nachgebend: 'Lasst uns momentan ihren Willen tun (nämlich die Taufe annehmen), damit wir unsre Brüder begraben dürfen und unsre Kinder aus ihrer Hand retten.' Denn die Herumirrenden hatten die an geringer Zahl übriggebliebenen Kinder ergriffen, um sie zu nötigen, ihren Glauben anzunehmen; diese hatten es jedoch verweigert, blieben vielmehr Gott, ihrem Schöpfer, treu. Auch die übrigen in den Gemächern des Bischofs sich befindenden Gemeindemitglieder, darunter Häupter (Vorsteher) und Wohltäter sandten den (den Mörderhänden der Kreuzzügler) Entronnenen Kleider um die Getöteten zu bekleiden, und ließen ihnen den (zur Taufe) Gezwungenen (Anmerkung 4) Worte des Trostes sagen: 'Fürchtet Euch nicht und nehmet Euch das, was ihr getan, nicht zu Herzen, denn wenn uns der Heilige, gelobt sei er, aus der Hand unsrer Feinde rettet, so werden wir mit Euch sein im Leben und im Tode, weichet nur nicht vom Ewigen' (nämlich in Euerem Inneren). –
Und es geschah am 25. Ijar = 20. Mai 1096, da sprachen die Herumirrenden und die Städter: 'Seht, da sind noch die, welche in den Gemächern des Bischofs übriggeblieben, lasst uns auch an ihnen Rache nehmen!' Und es sammelten sich (Leute) aus den Dörfern in der Umgegend und die Herumirrenden und die Städter und belagerten sie und kämpften mit ihnen (den Juden), und es entbrannte ein heftiger gegenseitiger Kampf, bis jene die Gemächer erobert hatten, worin die Kinder des heiligen Bundes sich befanden. Und als diese einsahen, dass aus diesem Kampfe kein Entkommen möglich war, da erkannten sie das über sie vom Könige aller Könige verfügte Urteil als gerecht an und brachen Opfer der Frömmigkeit, indem sie sogar ihre Kinder ergriffen und schlachteten auf die Einheit des göttlichen Namens, mit ganzem Herzen. – Daselbst wurden die Besten der Gemeinde getötet. –
Und es befand sich daselbst (nämlich in den Räumen des bischöflichen Palastes) ein junger Mann, Rabbi Meschullam ben Isaak. Er rief allen Umstehenden sowie seiner Frau Zipporah (Anmerkung 5) mit erhobener Stimme zu: 'Höret mich an, ihr Großen und Kleinen! Diesen Sohn hat mir Gott gegeben, meine Frau Zipporah gebar ihn mir in ihrem vorgerückten Alter, er heißt Isaak. Jetzt will ich ihn zum Opfer bringen wie dereinst unser Vater Abraham getan mit seinem Sohne.' Aber Zipporah            
Worms AZJ 16051876b.jpg (414158 Byte)antwortete: 'Ach mein Herr, warte noch ein wenig, lege nicht deine Hand an den Knaben! Ich habe ihn in meinem vorgerückten Alter geboren und ihn großgezogen (mit einer Liebe) wie der Adler seine Jungen hegt und pflegt.' Er aber sprach: 'Ich zögere keinen Augenblick. Der ihn mir gegeben, nehme ich ihn als sein Teil zurück und bringe ihn in den Schoß unseres Vaters Abraham.' (Anmerkung 6). Und er nahm das Schlachtmesser und sprach die Benediktion des Schächters aus, worauf der Knabe laut sprach: Amen! und schächtete seinen Sohn. Hierauf ergriff er seine laut schreiende Frau, und sie gingen vereint aus dem Zimmer, und die Herumirrenden töteten sie.-
Und es befand sich daselbst (Worms) ein junger Mann, Isaak ben Daniel. Diesen fragten sie (die Kreuzfahrer): '´Willst du deinen Gott vertauschen?' Er antwortete: 'Fern sei es von mir, ihn zu verleugnen. Im Vertrauen auf ihn will ich mich stärken und dann ihm meine Seele übergeben.' Und sie banden um seinen Hals einen Strick, schleiften ihn damit im Gassenkot bis zur Kirche, und da seine Seele noch in seiner Höhlung (Anmerkung 7) (Innere) war, sprachen sie zu ihm: 'Noch kannst du dich retten. Willst Du deinen Gott vertauschen?' Er aber, der nicht mehr sprechen konnte, gab ein Zeichen mit seinen Fingern, andeutend: 'Schneidet mir den Kopf ab!' Und sie taten es. –
Und die Übrigen, nachdem sie täglich gefastet und schwach geworden, dass sie sich nicht zur Wehre setzen konnten, und nachdem sie ihre getöteten Hausgenossen und Freunde beweint hatten, übergaben sie ihr Leben, sprechend: 'Lasst uns fallen in die Hand Gottes und das große Licht im Jenseits schauen.' -
Noch ein junger Mann war daselbst, Rabbi Simcha Hakohen, Sohn unseres Meisters und Lehrers Isaak Hakohen. Dieser gab ihnen zur Antwort: 'Ich will Euer Verlangen tun, führt mich aber vorher zum Bischof.' Und sie taten es. Bis sie nun in der Wohnung des Bischofs ihn zu taufen begannen, zog er ein verborgen gehaltenes Messer hervor, erstach den Neffen des Bischofs, der unter ihnen tätig war, und noch zwei andere. Hierauf wurde er getötet. – Auch eine vornehme Frau befand sich daselbst, Minna. Sie hielt sich verborgen in einem Hause außerhalb der Stadt unter dem Erdboden. Da versammelten sich um sie herum alle Stadtleute und sprachen zu ihr: 'Siehe, du bist ein biederes Weib. Erkenne doch, dass Gott Euch nicht retten will, Euere Leute liegen tot auf der Straße, und niemand begräbt sie. Taufe dich!' – Sie fürchteten Hand an sie zu legen, weil die Fürsten des Landes und die Vornehmen der Stadt bei ihr einzukehren zu pflegten. – Sie aber antwortete: 'Fern sei es mir, meinen Gott zu verleugnen. Auf ihn und seine heilige Thora sollt Ihr mich töten, zögert nicht.' Und auch diese berühmte Frau wurde getötet. – Alle wurden daselbst getötet, sie haben sich auch selbst einander geschlachtet zur Heiligung des göttlichen Namens.
Anmerkungen des Einsenders
1) Manchmal bemerkt man im Manuskript offenbare Schreibfehler. Nach Rektifizierung lautet diese Stelle also: (Hebräisch) was ich dahin deute: viele Gemeindemitglieder haben ihr Geld den Städtern, ihren Versprechungen vertrauend, zur Aufbewahrung übergeben, um es gegen Raubgesindel zu sichern; aber bei der schlichten Gesinnung der Städter diente dieser Umstand gerade dazu, dass sie dieselben desto eher den Kreuzfahrern zur Niedermetzelung überlieferten, weil sie dadurch enthoben waren, das Geld wieder herauszugeben. – Höchstwahrscheinlich ist’s, dass nicht alle Städter solche schlechte Gesinnung teilten, und wenn der Verfasser unter denselben keinen Unterschied setzt, so mag dies ebenso wohl an der Ungenauigkeit der mündlichen Überlieferung liegen, die ihm geworden, wie der schriftlichen Aufzeichnung, die er uns mitteilt. Die hebräische Sprache hat auch Mangel an positiven Fürwörtern wie einige, etliche, manche etc., darum bedient er sich kurzweg des persönlichen Fürworts in der dritten Person 'sie', ohne dass er gerade alle darunter verstanden wissen wollte. Die Solidarität in Beurteilung der Nichtisraeliten ist ohnehin dem Judentume fremd, wie im Talmud Beispiele zeigen. Andererseits steht die Relation dieses Manuskripts im Widerspruch mit der Behauptung des Herrn Dr. Grätz (Geschichte der Juden, Band IV, S. 247): 'Endlich waren die Bürger und der Rat ganz unschuldig an dem Gemetzel der Wormser Gemeinde beim ersten Kreuzzug. Ihre Henker waren lediglich die Kreuzzügler und der Bischof.' -
2) Die Tagesdaten stimmen mit Rabbi Elieser ben Nathan nicht überein.
3) Bekanntlich eine Vorstellung der jüdischen Mystik, Kabbalah. Neben dieser finden wir in dem Berichte dieses Martyriums Züge einer jüdischen Askese: Tag und Nacht, fasten, sich kasteien, beten etc.; die übrigens in den Büchern der heiligen Schrift ihr Vorbild findet, und in Zeiten der Gefahr und des Schreckens so natürlich ist, vgl. Joel 1,14. 2,15.17. Jona 3, 5.7.8. Esther 4, 3.16. und von anderen Stellen.
4) (Hebräisch:) Zur Taufe Gezwungenen. Später, als sich der kreuzzüglerische Schwarm verzogen hatte, beanstandeten fromme Israeliten, die als ihre Brüder anzusehen, welche sich aus Todesfurcht hatten taufen lassen, obgleich sie sofort wieder zum Judentume zurückgekehrt waren. Als dies Raschi (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) zu Ohren kam, sprach er sich entschieden dagegen aus: 'Ferne sei es von uns, uns von den Zurückgekehrten abzusondern. Nur aus Furcht vor gewissem Tode haben sie es getan (sich getauft), sind aber sofort wieder zu uns zurückgekehrt.' Nicht lange nachher starb Raschi, 13. Juli 1105. – Um uns zu zeigen, warum die Israeliten ein unbezwingliches Entsetzen vor dem damaligen Christentum und der Taufe empfunden haben, verweisen wir auf Grätz (Geschichte der Juden, Band VI, S. 103).
5) Ulemarat Zipora tiomato Wörtlich: Und der Gebieterin (Herrin) Zippora, seiner Schwester. Also bezeichnet Rabbi Meschullam seine Frau, die er sogleich Ischti (= meine Frau) nennt. Bekanntlich wird in jüdischen Schriften seit uralter Zeit der Frau das Epitheton (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Epitheton)  (Marta, Marat) (chaldäisch) Herrin, Gebieterin beigelegt, als Beweis, in welcher hohen Achtung die Frauen im Judentum standen. Hier wird dieselbe aber auch noch als Ausdruck inniger Zärtlichkeit Tiomata (chaldäisch) Zwillingsschwester, Schwester genannt.
6) Der Israelite drückt bei der Erfüllung irgendeines Gebots seinen Dank gegen Gott aus, dass er ihn dazu gewürdigt und berufen hat. – Der hier erzählte Vorfall ist so der biblischen Erzählung von der Opferung nachgebildet und so drastisch dargestellt, dass wir an der Wahrheit des Faktums zweifeln müssten, wäre es nicht so anderwärts verbürgt. Zunz (Der synagogale Ritus, S. 20) zählt, unter den namhaften Wormser Märtyrern: 'Zippora, eine alte Frau und ihr Sohn Isaak', doch fehlen ihr Mann und alle Lebensumstände.
7) Die Konstruktion veranlasste mich, das Wort täläd nicht 'Leben oder Lebenszeit' zu übersetzen, sondern nach dem Chaldäischen 'Höhlung'.
(Fortsetzung folgt)
Worterklärungen: Herumirrende - Kreuzzügler; Kreuzfahrer – Kreuzzügler; Wallfahrer – Kreuzzügler, auf dem Weg nach Jerusalem.   
    

  
Fortsetzung des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 3)    

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 23. Mai 1876: "Fortsetzung (Teil 3 / Schluss).  
Und es geschah, als die frommen Männer der heiligen Gemeinde zu Mainz hörten, dass ein Teil der Gemeinde Speyer und die ganze Gemeinde Worms getötet worden, schmolz ihnen das Herz zu Wasser, und sie schrien zu Gott: 'O, Ewiger, willst Du dem Reste Israels ein Ende machen?' Und es traten zusammen die Führer der Gemeinde Speyer und begaben sich zu dem Bischof und seinen Beamten und sprachen: 'Was sollen wir Juden unter diesen Umständen tun?' Diese antworteten: 'Höret unsern Rat! Bringet all Euer Geld in unsere Schatzkammern zur Aufbewahrung und Ihr, Eure Weiber und Kinder, begebet Euch in den Hofraum des Bischofs, da könnet Ihr gerettet werden.' Dies (Anmerkung 1) rieten sie, um uns wie Fische im Netze auf einmal zu fangen und zu ergreifen.- Der Bischof hat auch wirklich seine Beamten und Diener, sowie Fürsten, Ritter, Herren, Befehlshaber und Vornehme des Landes versammelt, um uns zu helfen und uns zu retten vor den Herumirrenden, denn anfänglich war dies wirklich keine Absicht, aber am Ende wurde es schlecht. (Anmerkung 2). –
Eines Tages kam in den Straßen eine Christin einhergegangen und führte eine Gans mit sich, die sie von damals an, da dieselbe noch ein Küklein war, großgezogen hatte, und die gewöhnt war, überall hin ihr zu folgen. Sie redete alle Vorübergehenden an: 'Sehet, die Gans verstand, dass ich sagte, ich wolle zur Kirche gehen.' Und alsbald versammelten sich um uns die Herumirrenden (Kreuzzügler) und die Städter und sprachen: 'Wo ist Euer Ruhm? (Anmerkung 3) Wie könnt Ihr Euch retten? Sehet, was Christus diesen Gänsen tut.' (Anmerkung 4) Und sie kamen mit Schwertern und Lanzen herzu, um uns zu töten, allein ein Teil der Städter trat dazwischen und litt es nicht.-
Zu selbiger Zeit mordeten sie in der Umgegend des Rheines, weil sie einen von den Herumirrenden erschlagen hatten, indem sie sprachen: 'All dieses haben sie den Juden getan.' Und es fehlte wenig, so wären wir alle umgekommen. Und als die frommen Männer der Gemeinde es erfuhren, redeten sie mit ihnen harte Worte (dies könnte veranlassen, Anmerkung 5) über uns herzufallen. Und als sie ihre Worte hörten, sprachen sie: 'O, stürben wir doch durch die Hand Gottes und nicht durch die seiner Feinde.' – Und sie ließen ihre Häuser öde und leer stehen, gingen auch nicht zur Synagoge außer am Sabbat, dies war der letzte Sabbat, der nächste zu unserem Verhängnisse. Nur wenige Leute gingen hinein zu beten. – Rabbi Isaak ben Jehuda war dabei – sie weinten jämmerlich.
Und es befand sich daselbst (Mainz) ein scharfsinniger gelehrter Jünger, Rabbi Baruch ben Isaak. Er sprach zu uns: 'Unser Verhängnis ist unabwendbar. Denn ich und mein Schwäher (Schwager) Jehuda - - die Seelen, die hier gebetet hatten mit lauter Stimme wie Weinen, und wie wir die Stimmen hörten, glaubten wir, vielleicht seien einige Gemeindemitglieder aus dem Hofe des Bischofs hinweg und in der Mitte der Nacht in die Synagoge gegangen, um da in Not und Herzenskummer zu beten. Wir liefen an die Synagogentüre und sie war verschlossen. Die Stimmen hörten wir, schauten aber nichts. Da kehrten wir zurück in das Haus, welches nahe bei der Synagoge war.' –
Und als wir diese Worte hörten, fielen wir auf unser Antlitz zur Erde und sprachen: 'Willst Du, Ewiger, dem Reste Israels ein Ende machen?' Und sie gingen hin und erzählten ihre Begegnisse auch ihren Brüdern im Hofe des Statthalters und im Hofe des Bischofs. Und auch sie weinten sehr (Anmerkung 6).-
Und es geschah am 1. Siwan (= 25. Mai 1096), da kam Emicho (Anmerkung 7, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)), der Bösewicht mit einem großen Heere aus Herumirrenden und gemeinem Volke bestehend, vor der Stadt      
Mainz AZJ 23051876b.jpg (360732 Byte)an. Auch er wollte zum Grabe Christi gehen (sc. nach Jerusalem). Er war unser grausamster Feind, ein Wütrich, der weder den Greis noch den Säugling und den Kranken verschonte, Alle tötete. – Und sie lagerten außerhalb der Stadt zwei Tage lang.
Da sprachen die Häupter der Gemeinde: 'Wir wollen ihm (Emicho) Geld senden und durch ihn an die Gemeinden schreiben, dass sie ihn gut aufnehmen möchten, vielleicht hilft dieses.'- Sie hatten bereits zwecklos gegen 400 Halbe (Anmerkung 8) (vielleicht halbe Golddenare) an den Bischof, Statthalter, an die Beamten und Städter verschenkt gehabt. –
Und es geschah am 3. Siwan (27. Mai 1096) mittags, da rückte der Bösewicht Emicho mit seinem Heere gegen die Stadt heran, und die Städter öffneten ihm die Tore. Und es sprachen die Feinde Gottes, einer zu andern: 'Sehet, die Tore sind von selbst aufgegangen, das hat Christus getan, um Rache an den Juden nehmen zu können.' Und sie zogen mit ihren Fahnen vor das Tor des bischöflichen Palastes, worin die Juden versammelt waren. Und als die heiligen Männer die große Menge erblickten, stärkten sie sich im Vertrauen auf Gott und Bewaffneten sich von groß bis klein und Rabbi Kalonymos ben Meschullam (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden) stand an ihrer Spitze. Daselbst war auch ein Chassid, einer der größten des Zeitalters, Rabbi Menachem (Anmerkung 10) ben Rabana, Rabbi David Halevi. Dieser sprach: 'Ganze Gemeinde! Heiliget den Namen Gottes, des ehrfurchtsvollen! Eure Väter sprachen um diese Zeit (der Gesetzgebung auf Sinai): 'Wir wollten vollbringen und gehorchen.' Und sie riefen laut aus: 'Höre Israel, der Ewige, unser Gott ist einzigeinig.' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schma_Jisrael) -
Und (Anmerkung 11) sie (die Juden) näherten sich dem Tore und kämpften daselbst mit den Herumirrenden und den Städtern; aber die Sünden verursachten, dass die Feinde siegten und das Tor eroberten. Und die Leute des Bischofs, welche den Juden versichert hatten, ihnen Beistand zu leisten, waren die ersten, welche die Flucht ergriffen, sie waren unzuverlässig. Da drangen denn die Feinde in das Tor und erschlugen alle, die nur finden konnten, darunter auch Rabbi) Isaak ben Moses. – Nur 53 Personen (Anmerkung 12), darunter auch Kalonymos, flohen durch die Gemächer des 13
Bischofs, bis sie in ein langes Gemach kamen, das man Schinger (Anmerkung 13) hieß, woselbst sie blieben.
Und als die Juden sahen, dass Rettung unmöglich sei, schrien sie: 'Auf, lasset uns nicht zögern, die Feinde sind gleich da, lasset uns uns selbst opfern vor unsrem Vater im Himmel! Wer ein Schlachtmesser hat, komme und schlachte uns zur Heiligung des Namens des Einen-Einzigen; alsdann durchbohrte er sich selbst. Und sie schlachteten sich gegenseitig. Männer schlachteten ihre Frauen und Kinder. Manche Frauen warfen den Feinden Geld zu, um sie so lange aufzuhalten, bis sie ihre Kinder geschlachtet hätten. Zärtliche Mütter erwürgten ihre Kinder und zeigten deren Gesichter den Feinden. Jünglinge und Jungfrauen schauten durch die Fenster und riefen den Feinden zu: 'Sehet, was wir tun, um unsere Gottheit nicht vertauschen zu müssen.' - Und die Geschlachteten und die Sichselbstentleibten lagen in den Zimmern in langen Reihen, und das Blut strömte zu den Zimmern hinaus. Und als die Feinde die Türen zerbrochen hatten und in dieselben eindrangen und die Juden sich im Blute wälzend fanden, da zogen sie ihnen die Kleider aus, nahmen deren Geld und schlugen die noch Übriggebliebenen tot.
Nur ein Zimmer widerstand durch seine Festigkeit ihren Angriffen bis gegen Abend. Als nun die Heiligen (Anmerkung 14) daselbst sahen, dass die Feinde stärker als sie waren, da rafften sich die Männer und Frauen auf, schlachteten zuerst ihre Kinder, dann sich gegenseitig. Und es warfen Frauen Steine durch die Fenster auf die Feinde, und diese schleuderten Steine auf sie, sodass diesen Gesicht und Leib zerfleischt wurden. Darunter befand sich auch eine sehr geachtete Frau, Rachel, Tochter der Rabbi Isaak ben Ascher (vgl. http://www.jewishencyclopedia.com/articles/8158-isaac-ben-asher-ha-l). Sie sprach zu ihrer Freundin: 'Ich habe vier Kinder. Auch sie sollt Ihr nicht verschonen, damit sie nicht im Irrtum erzogen werden.' Ein Schlachtmesser wurde von einer Freundin herbeigeholt und die vier Kinder, zwei Söhne, Aaron und Isaak und zwei Töchter, Bella und Matrone (Anmerkung 15), wurden geschlachtet. Und die Herumirrenden, die sie bei ihren Kindern sitzen, klagen und weinen fanden, erschlugen auch sie (Anmerkung 16). Hierauf warfen sie alle Ermordeten, Geschlachteten, Sichselbstentleibten aus den Fenstern hinaus. Das taten sie in allen Gemächern.
Und es entstanden viele Haufen von Leichnamen, so hoch wie Berge (Anmerkung 17). Und unter den zu den Fenstern Hinausgeworfenen waren manche, welche noch Leben in sich hatten. Sie winkten mit ihren Fingern: 'Gebet uns Wasser!' Aber die Herumirrenden, die dies merkten, fragten sie: 'Wollt Ihr euch taufen?' Und da sie es mit Kopfschütteln verneinten und ihre Augen zum Himmel aufschlugen, wurden sie vollends getötet. –
Nachdem dies vorüber war, gingen die Herumirrenden mit ihren Fahnen in den Hof des Statthalters, das ist der Burggraf (Anmerkung 18), wo der übrige Teil der Gemeinde war. Und sie eroberten den Eingang des Hofes, kämpften mit ihnen und erschlugen auch sie. Daselbst war ein Mann, Mar Chelbo ben Moses. Dieser sagte zu seinen zwei Söhnen: 'Nun ist das Paradies und auch die Hölle offen, wählet!' Und sie wählten Ersteres. Hierauf wurden sie samt ihrem Vater erschlagen. Auch eine Thorarolle fanden die Herumirrenden in einem Zimmer daselbst, und sie zerrissen sie in Stücke. Da hoben Männer und Frauen zu klagen und zu jammern an. 'Wie ist doch die heilige Thora, die wir in der Synagoge so hoch verehrt haben, jetzt zu Schanden geworden!' Und Rabbi David ben Rabana Menachem sprach: 'Zerreisset Eure Kleider wegen der heiligen Thora.' Und sie taten also. Und gerade fanden sie einen Herumirrenden in irgendeinem Zimmer und steinigten ihn. Da bestiegen die Herumirrenden und die Städter den Söller (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Söller) und schossen mit Pfeilen auf die dort sich befindenden Juden und stachen sie mit Lanzen. Da war ein Mann, Max Jakob ben Sulam, dessen Mutter keine Jüdin war, Auch er entleibte sich, um dem    
Mainz AZJ 23051876c.jpg (404354 Byte)Ewigen treu zu bleiben. Ebenso tat ein Greis, Rabbi Samuel ben Mordchai.
Hierauf zogen die Herumirrenden und Städter in die Stadt, in den Hof eines Geistlichen. Dort hatte sich der Gemeindeeinnehmer, Max David ben Nathaniel versteckt, er, seine Frau und Kinder. Der Geistliche sprach zu ihm: 'Siehe, von den Juden sind nur die übriggeblieben, die die Taufe angenommen haben. Taufe dich und du bist gerettet.' Er erwiderte: 'Geh hin und sage den Herumirrenden, sie möchten daherkommen.' Er tat es, und mehrere Tausende versammelten sich um das Haus. Da rief ihnen Max David zu: 'Ich vertraue auf den Ewigen. Wenn ihr mich getötet habt, so wird meine Seele im Paradiese ruhen, ihr aber werdet in die Hölle fahren.' Und sie töteten ihn und alle seine Angehörigen. –
Ebenso verfuhren sie mit einem andern Manne, der in seinem Hause geblieben war, Rabbi Salomon ben Naamon. Als er ihr Verlangen, sich taufen zu lassen, verneinte, erschlugen sie ihn und seine Angehörigen. -
Ich habe hier einige Männer mit Namen (Anmerkung 19) angegeben. Was hingegen andere Gemeindeglieder, insbesondere die Führer der Gemeinde für die Einheit des Königs aller Könige gesprochen und gewirkt haben, wie Rabbi Akiba (Anmerkung 20, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbi_Akiba) einst getan, ist mir nicht näher bekannt geworden. – Gott erlöse uns von dieser Trübsal.

Anmerkungen des Einsenders:
1) Diese Absicht scheint wenigstens bei dem Bischof nicht vorhanden gewesen zu sein, wie dies aus den nachfolgenden Worten hervorgeht
2) (Hebräisch), eigentlich heißt es: Und zuletzt wurde er sauer; allein wir finden den Ausdruck schon im Talmud rosch haschana 3 b bildlich in der Bedeutung von 'schlecht' gebraucht. – Über das Verhalten des Bischofs Ruthart (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ruthard_(Mainz)) sind die Meinungen geteilt. Die einen beschuldigen ihn, den Überfall begünstigt und am Raube teilgenommen zu haben, während die andern ihn von aller Schuld freisprechen. Der Verfasser des vorliegenden Berichts scheint das Richtige mitgeteilt zu haben. 'Anfänglich hatte er den Willen, uns zu retten, zuletzt wurde er 'schlecht'. Dass er die Absicht hatte, sie zu retten, beweist die Mannschaft, die er zur Beschützung der in seinem Hofraume sich befindenden Juden aufgeboten hatte. Als aber dieselbe zu schwach war, der großen Masse der Kreuzfahrer Widerstand zu leisten, und als die Juden allesamt teils durch die Kreuzfahrer, teils durch Selbstentleibung umgekommen waren, wollte er ihre Schätze nicht ganz den bluttriefenden Händen des kreuzzüglerischen Gesindels überlassen. Er nahm teil am Raube und wurde deshalb später von Heinrich IV. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) zur Rechenschaft gezogen.
3) (Hebräisch) Ruhm, es könnte jedoch auch ein im Talmud vorkommendes chaldäisches Wort (Chaldäisch) sein und Gewinn, Vorteil bedeuten.
4) Man müsste solchen Blödsinn für ein Märchen halten, fände er sich nicht anderwärts bestätigt. Grätz (Geschichte der Juden, Band IV, S. 162) erzählt von den Wallfahrern unter den französischen Ritter, Wilhelm der Zimmermann: 'Sie hatten eine Gans und einige Ziegen, die sie vor sich gehen ließen, und von denen sie glaubten, sie seien vom heiligen Geiste angehaucht und würden ihnen den Weg nach Jerusalem zeigen.'
5) Das Eingeklammerte habe ich suppliert. Der ganze Absatz ist dunkel. Man weiß selten, wer das Subjekt der Handlung ist.
6) Die hier erzählte Begebenheit ist sehr dunkel. Meines Erachtens soll sie den Gedanken darstellen, man habe mitten in der Nacht eine weinerlich-betende Stimme von abgeschiedenen Seelen vernommen, und dies habe man als ein böses Omen angesehen.-
7) Dass dieser Emicho, Graf von Leiningen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Leiningen_(Adelsgeschlecht)), ein Bösewicht war, bezeugen die Historiker. Schlosser, (Weltgeschichte, Band 5) nennt ihn roh, gewalttätig; H. von Sybel (a.a.O. S. 245) nennt ihn grausam, tyrannisch und Grätz (a.a.O. S. 105) gewissenlos, blutrünstig. Dieser Graf Emicho hauste in der Gegend von Mainz. Der Auswurf der englischen, flandrischen, französischen und lothringischen Völker versammelte sich daselbst unter seiner Anführung, sodass seine Schar auf 14.000 Kreuzfahrer anwuchs. Auch Wilhelm der Zimmermann, Vicomte von Melun (vgl. https://www.geni.com/people/Guillaume-de-Melun-Vicomte-de-Melun/6000000002248212482), dieser rohe, gewalttätige Mensch, der durch Plünderung französischer Bauern sich die Mittel zum Zuge erworben hatte, war zu Emicho gestoßen. Dieser Emicho soll auch derjenige gewesen sein, welcher den Plan zur Vertilgung der Juden zuerst entworfen und als zündenden Funken unter die verwilderten Kreuzscharern geschleudert habe.
8) Im Manuskript heißt es (Hebräisch), worunter ich 400 Golddenare (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Denarius) verstand, weil diese Münzsorte seit den Karolingern (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karolinger) stark im Umlauf war.
9) Dieser Meschullam ist wahrscheinlich der bekannte fruchtbare Pajetan, der zu den Lehrern Raschis gezählt wird.
10) Dieser Menachem könnte vielleicht der in Tosaphot vorkommende sein, doch ist dies hier ungewiss. Sein Vater Rabbi David Halevi ist der Verfasser der bekannten Selicha (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Slichot) Adonai elohai rabbat zeraruni, welche die Kreuzzugsschrecken zum Thema hat.
11) Der Verfasser unterbricht hier häufig die Erzählung von dem Geschehen mit dem Ausdrucke des tiefsten Schmerze, den sein Herz empfindet, und mit Worten des Trostes, die er den Märtyrern in den Mund legt. Er beklagt es, dass mit der Hinschlachtung so vieler frommer und gelehrter Männer der Glanz des Torastudiums sich verdunkelt habe; Demut, Frömmigkeit und echte Wohltätigkeit geschwunden seien. 'Sonne und Mond, ruft er aus, warum habt Ihr Euer Licht nicht entzogen denen, die den Namen Israels austilgen wollten?' Die Märtyrer lässt er sagen: 'Wir vertauschen dieses Leben der Not, Finsternis und Vergänglichkeit mit dem Leben der Freude, des Lichtes und der Ewigkeit. Sein Stil erinnert an die Dichter der Buß- und Klagelieder (Selichot weKinot). Des Zusammenhanges und der Abkürzung willen, habe ich diese eingefügten elegischen Stücke weggelassen.
12) Elieser ben Nathan berichtet in seinem Martyrologium, in dem Schatzhause des Doms (Bebait HaOzar schäl tehom) hätten sich an diesem Tage 60 Personen gerettet, die vom Bischof nach dem Rheingau gebracht, aber später auch von den Feinden erschlagen worden wären.
13) Dieses Wort (Schingir) war mir unerklärlich.
14) Dieser Ausdruck ist antizipatorisch zu fassen, denn erst in der Folge pflegt man die Märtyrer Heilige zu nennen, gegen den Geist des Judentums, das nur Einen als heilig anerkennt, das ist Gott.     
Mainz AZJ 23051876d.jpg (80374 Byte)15) Im Manuskript heißt es (Hebräisch), was ich nicht anders als Matrone deuten kann. Matrone ist ein bei Jüdinnen im Mittelalter häufig vorkommender Name.
16) Unser Martyrologe hat diese Schlachtszene so drastisch dargestellt, dass sie auf den Leser einen erschütternden Eindruck zu machen nicht verfehlt. Bei der Übersetzung habe ich krasse Nebenumstände beiseite gelassen.
17) Nach dem Berichte des zeitgenössischen Rabbi Elieser betrug in Mainz die Gesamtsumme der Getöteten und Selbstentleibten 1.300 Personen.
18) Im Manuskript (Hebräisch). Burggravo ist Altdeutsch und bedeutet: Burggraf, Stadthauptmann, Stadtrichter. (Pacha) heißt in biblischem Gebrauch: Statthalter (Pascha) ist aber hier in dem näher bezeichneten Sinn zu nehmen. – Im Mittelalter sind manche Burggrafen in Stadtgrafen (comites urbis) übergegangen. – Die Vorgänge bei dem Statthalter sind neue Details, die bisher unbekannt waren. Einen Söller, worauf Juden waren, gegen welche die Kreuzfahrer mit Pfeilen und Lanzen zuerst kämpften und sie endlich alle getötet haben, kennt wohl Albertus Aquensis, nicht aber Rabbi Elieser ben Nathan.
19) Die hier besonders hervorgehobenen Namen stimmen mehrenteils mit denen überein, die auch bei Rabbi Elieser ben Nathan vorkommen.
20) Anspielung auf Rabbi Akiba, den um 130 n. Chr. Rufus unter grausamen Martern hat hinrichten lassen und der seinen Geist aushauchte, mit dem Bekenntnis: 'Höre Israel, der Ewige, unser Gott ist einzig-einig.' - "  

    
Erklärung des Komitees zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)           

Artikel in der Zeitschrift "Der treue Zionswächter" vom 5. August 1853:  "Hessen-Darmstadt
Worms,
im Juli 1853. Den geehrten Lesern dieses Blattes sind wir es schuldig, einige Worte über Zweck und Absicht unseres Aufrufs an die Gemeinden, zum Behufe der Renovierung hiesiger jüdischer Altertümer auszusprechen. Nach dem alten Spruch ... sind wir dem Andenken der Heroen unserer Literatur, Pietät und Verehrung im höchsten Grade schuldig und müssen wir den gebieterischen Ruf vernehmen ..., weil wir schmerzlich hinzufügen müssen .... So ist es gewiss an der Zeit, an dem Geiste und der Kraft jener Herren uns zu erstärken und zu erheben und durch die an den Tag gelegte Verehrung derselben ein lebendiges Beispiel der Ermunterung und Ermutigung zu geben. Raschis Stuhl ... ist dem Verfall nahe – und ... er mahnt dringend selbst: Das Andenken unsterblichen Wirkens, nicht ein Raub der Zeit zu werden. Aber auch die ... des hiesigen weltberühmten Friedhofes bedürfen der Herstellung, um die geheiligten Stätten dem Auge und dadurch dem Herzen des Judentumes zu erhalten. Möge daher ein Jeder dazu beitragen ..., dessen Name soll in einem Gedenkbuch zum ewigen Andenken eingezeichnet, und für die edlen frommen Geber ein öffentlicher Gottesdienst in der Raschi-Klause alljährlich verrichtet werden. Gottes Segen begleite das gute Werk!
Im Namen des Komitees Moses Mannheimer.
Nachbemerkung. Der und vom Komitee zugesandte Aufruf ist uns bisher noch nicht geworden und bedauern wir daher nichts Näheres über denselben sagen zu können. Selbstverständlich empfehlen wir das Unternehmens aufs Wärmste dem religiösen Sinne des wahrhaften Judentums, wie wir gerne bereit sind, etwaige Spenden zu diesem Behufe entgegenzunehmen. Die Redaktion."     

  
Zum Stand der Bemühungen zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)     
Hinweis: auf die Wiedergabe der hebräischen Begriffe und Zitate wird weitgehend verzichtet; die hebräische Schrift ist in diesem Artikel nur schwer lesbar. 

Artikel in der Zeitschrift "Der treue Zionswächter" vom 30. September 1853: "Worms, im September. Die Teilnahme, welche das Unternehmen der Renovierung hiesiger jüdischer Altertümer erregt, gibt sich mehr und mehr kund. Von nah und fern beeilen sich die Gemeinden, Sammlungen zu veranstalten, um Beiträge alsbald dieser gelangen zu lassen, (Hebräisch). Auch ist dieser Tage von Amsterdam von der (Hebräisch) Gemeinde eine Geldsendung, nebst ein ermunterndes Schreiben uns zugekommen, dessen Inhalt so echt jüdischen Sinnes der Veröffentlichung verdient, und ich erlaube mir, diesen Teil dieses Briefes hier wiederzugeben, vielleicht ist dies derselbe ein Sporn vieler Leser dieses schätzbaren Blattes zur Teilnahme zu veranlassen (Hebräisch), wo jener (Hebräisch) wie (Hebräisch) gelebt, gelehrt und gelernt hat.
(Hebräisch)
Die allerneuste Forschung auf dem Friedhof haben wieder neue Resultate gebracht. Es wurde eine Masecha - Grabstein gefunden, deren Inhalt ein (Hebräisch) enthält und ein (Hebräisch) hier liegen muss; unter andern heißt es (Hebräisch) und ist zu vermuten, dass es der (Hebräisch) ist; auch wäre es möglich, dass es der Vater von (Hebräisch) war; die Jahreszahl wird uns die Wahrheit näherbringen; auch sind die (Hebräisch) von (Hebräisch) Verfasser des (Hebräisch), die von (Hebräisch) werden eben aufgesucht.
Möge die allgemeine Teilnahme dieses ehrwürdige, uneigennützige Unternehmen, liebevoll unterstützen, und jeder seinen hohen Beruf darin finden, zu sein von den (Hebräisch).
M. M. (wahrscheinlich Moses Mannheimer)
Worms, im September. Es gingen bis jetzt zur Renovierung der hiesigen jüdischen Denkmäler ein: Von Märkisch Friedland 5 Taler; Ellwangen 3 fl. 30 Kreuzer (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzer_(Münze)) ; Bretten 8 fl. 21 Kreuzer; Adelsdorf 10 fl.; Lonnerstadt 2 fl. 6 Kr.; Mühlhausen (Bayern) 7fl. 42 Kreuzer; Forchheim 5 fl. 9 Kreuzer; der altschottländischen Gemeinde zu Danzig 19 Taler; Myslowitz 8 Taler; Flatow 7 Taler; Pleß 3 Taler; Grätz (im Posenschen) 6 Taler 22 Sgr. 6 Pf.; Wolfenbüttel 2 Taler; Burgkunstadt 12 fl. 27 Kreuzer; Wiesbaden 24 fl. 9 Kreuzer; Gnesen 5 Taler; von Simon A. Cohen in Coburg 25 fl.; Graudenz 3 Taler; Grünberg 6 Taler; von Baruch Achselrad aus Jassy (Iasi, Rumänien) 2 fl.; Schwerin 11 Taler 5 Sgr.; aus der Gemeindekasse der Aschkenasim in Amsterdam 50 fl. – Summa 75 Taler 27 Sgr. 6 Pf. Und 150 fl. 24 Kreuzer – Zusammen 283 fl. 15 Kreuzer.
Das Komitee zur Renovierung der hiesigen israelitischen Denkmäler."          


Spendenliste für Beiträge zur Renovierung der jüdischen Altertümer sowie Artikel über "Raschi's Anwesenheit in Worms" (1853)   
Anmerkung: im Abschnitt nimmt Dr. Levysohn Stellung zu vorgebrachten Zweifeln an der Anwesenheit und Lehrtätigkeit von Raschi in Worms.  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 26. Dezember 1853: "Worms, Ende November (Eingesandt.) Es ging an Beiträgen zur Renovierung der hiesigen jüdischen Denkmäler ferner ein: Von Pyritz (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pyrzyce) 8 Thlr. 15 Sgr.; Biebrich und Mosbach 5 fl. 42 kr., Altenkunstadt 3 fl. 39 kr., Siegburg bei Bonn 2 Thlr., Hürben 10 fl.; Fischach 12 fl.; Baiersdorf 7 fl.; Laupheim 11 fl.; Cöslin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Koszalin) 3 Thlr.; Uhlfeld 10 fl.; Biblis 5 fl. 2 kr,, Emden 7 Thlr.; Berlin 15 Thlr.; Bauerbach 1 fl. 54 kr.; Menzingen  4 fl. 3 kr.; Flehingen 10 fl. 33 kr.; Gochsheim 1 fl.; Gondelsheim  3 fl. 36 kr.; Jöhlingen 3 fl. 7 kr.; Dinkelsheim (Diedelsheim?) 2 fl. 15 kr.; hierzu laut No. 44b d. Bl. 575 fl. 14 kr., Summa 43 Thlr. 15 Sgr und 667 fl. 4 kr., zusammen 753 fl. 42 kr.
 
Raschis Anwesenheit in Worms. (Hinweis: die hebräischen Zitate konnten noch nicht wiedergegeben werden; zum Lesen der hebräischen Zitate bitte Textabbildungen anklicken).
Die Arch. Isr. de Fr. (= Archives israélites de France, französische Monatszeitschrift für das Judentum erschienen von 1840 – 1935 https://fr.wikipedia.org/wiki/Archives_israélites_de_France; Anm. S.R.) ebenso wie L'Univers israélite (gleichfalls französische Monatszeitschrift, dann Wochenzeitschrift für das Judentum, erschien von 1844 - 1940 https://fr.wikipedia.org/wiki/L'Univers_israélite, Anm. S.R) unser Zirkular, das bereits in Nr. 34 dieses Blattes abgedruckt und von hier aus in das Jewish Chronicle (sc. jüdische Wochenzeitschrift, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/The_Jewish_Chronicle, Anm. S.R.) übergegangen ist, aufgenommen und warm empfohlen. In dem Univers ist auch das Klein'sche Zirkulär vollständig abgedruckt und es ist recht erfreulich zu sehen, wie auch die ausländische jüdische Presse mit lebhaftem Interesse das Unternehmen des hiesigen Komitees unterstützt, nichts desto weniger veranlassten die Archives den Unterzeichneten zu einer längeren Erwiderung und Berichtigung, deren wesentlichen Inhalt auch hier aufzunehmen Euer Ehrwürden ergebenst ersucht werden. – Die Archives bemerken, dass es ungewiss sei, ob Raschi in Worms gelehrt (professé), man wisse nur, dass derselbe in Deutschland geweilt habe. Die Anwesenheit Raschis in Worms wird         
Worms AZJ 26121853b.jpg (266579 Byte)jedoch durch nachstehende Argumente außer allen Zweifel gestellt und selbst seine Eigenschaft als öffentlicher Lehrer am hiesigen Orte soll durch nachbezeichnete, handschriftliche Quellen aus dem unsichtbaren Kreis subjektiver Vermutung treten und an objektiver Konsistenz gewinnen. – Bekanntlich genoss Raschi zuerst den Unterricht des Rabbi Jakob ben Jakar (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Jakar), alsdann des Rabbi Jizchak Halevi (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Isaak_ben_Eleasar_ha-Levi)  (siehe Gittin 59, b.s.v. Hebräisch sind drei Lehrer Raschis erwähnt, indem Mori hasakan [= mein alter Lehrer] den Rabbi Jakob ben Jakar bezeichnet, der zweite, Jizchak ben Jehuda war ebenfalls in Worms und ging später nach Mainz, cf. Hagadot Maimuni Seder Tephila P.13, lit.2).  Rabbi Jakob Halevi war Rabbiner in Worms (s. Rab. Aschur zu Rosch Haschana Hebräisch heißt es: Awal Gaon Rabenu Jizchak Halevi s'l hanahig bewormisa). Raschi selbst gibt dieses Ortsverhältnis an (s. Beza 24, b.s.v. Hebräisch), er erzählt: Die Gelehrten in Worms nahmen in einem kasuistischen Falle gegen ihn und für seinen Lehrer Partei, doch Rabbi Kalonomos aus Rom (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meschullam_ben_Kalonymos) kam nach Worms und erklärte sich für Raschi, was er ihm auch brieflich mitteilt. Raschi aber behauptete seine Ansicht in Gegenwart der Lehrer (Hebräisch) und zwar also in Worms, viel deutlicher noch beweist seine hiesige Anwesenheit folgende Stelle in den She'elot uTeshuvot... [Fragen und Antworten... ] (bekanntlich eine höchst wertvolle Sammlung von Rabbinatsgutachten der Rischonim [vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Posek]). Die Stelle lautet im Auszuge (Hebräisch): ...
Es geht hieraus klar hervor, dass Raschi mehr als ein Mal in Worms gewesen. Nachstehende Quellen dürfen aber auch seine öffentliche Wirksamkeit als Lehrer bekunden, wobei wir freilich deren Echtheit aus dem Grunde nicht anfechten, weil kein Verdacht gegen dieselbe vorhanden ist. Seine Ehrwürden, der hiesige Herr Rabbiner, besitzt zwei Manuskripte, aus welchen ich die betreffenden Stellen herzusetzen, mir erlaube. Das erste Manuskript ist das in Kleinoktav geschriebene Minhagimbuch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) (Anfang und Ende defekt) und lautet an besagter Stelle: (Hebräisch) - Das zweite Manuskript ist das sogenannte Mimmerbuch (= Memorbuch; es enthält die Namen Derjenigen Verstorbenen, welche allsabbatlich der Reihe nach in der Synagoge erwähnt werden (Hebräisch), die Stelle lautet: (Hebräisch).
Diese beiden Stellen bekräftigen daher nur die so alte und so allgemein verbreitete Sage von Raschis Synagoge und Raschis Stuhl, und man muss daher wohl zu der Annahme sich bewogen fühlen, dass Raschi hierorts öffentliche Vorträge gehalten, obwohl über die Dauer seiner hiesigen Anwesenheit schwerlich Gewissheit zu erlangen sei. Ich bemerke schließlich, dass ich mit tiefem Bedauern die Arbeiten über Raschi von Zunz (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_Zunz) und Bloch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Bloch) hier nicht zu Rate ziehen konnte, da ich nach deren Besitz bis jetzt vergeblich gestrebt habe. Worms, im November 1853. Dr. L. Levysohn."
Vgl. noch zu Archives Israélites de France: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb327014664/date  und zu L’Univers israélite: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb344300007/date 
Hinweis: Der Verfasser des Beitrages Dr. Ludwig Levysohn war über sieben Jahre Rabbiner und Prediger in Worms: Siehe Artikel von 1859 (interner Link).
 

  
Über die jüdische Gemeinde in Worms - Bildung einer orthodoxen Religionsgesellschaft auf Grund der Orgel in der Synagoge (Artikel von 1871)    
Anmerkung: sehr kritischer Beitrag zur jüdischen Gemeinde in Worms aus Sicht der jüdisch-konservativen Zeitschrift "Der Israelit", wobei vor allem an der Einführung der Orgel in der Synagoge in Worms Anstoß genommen wird, die der Hauptstreitpunkt zwischen Orthodoxen und Liberalen in den jüdischen Gemeinden der damaligen Zeit war und vielerorts zur Abspaltung orthodox-jüdischer Gemeinden geführt hat.  

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. August 1871:"Die israelitische Gemeinde zu Worms
Worms, 21. August. Es ist eine der ältesten und berühmtesten israelitischen Gemeinden Deutschlands, über deren traurige Verkommenheit zu berichten mir heute die schmerzliche Pflicht obliegt. Einst tonangebend in der ganzen jüdischen Welt, ausgezeichnet durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, der Sitz der größten Männer der Judenheit, heiliger Märtyrer und Glaubenshelden, ist von allem dem              
Worms Israelit 30081871b.jpg (378667 Byte)kaum etwas übrig, als unser berühmter Beerdigungsplatz, auf welchem die Grabmäler vieler großen Männer die Jahrhunderte überdauert haben. Und die alte Synagoge, diese älteste, ehrwürdigste und dabei in ihrem Alter so wunderbar schöne Synagoge? Ach, sie ist entweiht durch unjüdische Einführungen, durch Orgelklänge, die dem jüdischen Gotteshause fernbleiben sollten!
Wie in anderen großen Gemeinden, so hat sich auch hier eine orthodoxe Religionsgesellschaft gebildet, die freilich nur aus zwölf Mitgliedern besteht. Der Glückliche, dem es vorbehalten war, eine Orgel oder Derartiges in unsere altehrwürdige Synagoge einzuführen, ist der Rabbiner, Herr Dr. Alexander Stein (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Stein_(Rabbiner)); denn ein ehemaliger Zögling des Breslauer Seminars (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdisch-Theologisches_Seminar_in_Breslau) sitzt auf dem Rabbinatssitze Raschis, des Rokeach (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Eleasar_ben_Juda_ben_Kalonymos) und des Chawaß Jair (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach)!!!
Die Seele des Widerstandes gegen die Orgelei ist Herr Moses Mannheimer, ein Schüler des weitberühmten, vor sieben Jahren zu den Vätern heimgegangenen Wormser Rabbinen R. (Jakob) Koppel Bamberger (das Andenken an den Gerechten und Heiligen ist zum Segen, vgl. Anmerkung unten). Am 23. Januar a.c. (anni currentis = dieses Jahres) schied ein Mitglied des Vorstandes aus, und fand deshalb eine Neuwahl statt. Von 190 stimmberechtigten Gemeindemitgliedern beteiligten sich nur 42 an der Wahl; 19 von diesen gaben Herrn Moses Mannheimer ihre Stimmen, der in Folge dessen durch relative Majorität zum Vorstandsmitgliede erwählt war. Dies Resultat war in der Tat überraschend, die enragierten (= wütend gewordenen, franz.) Fortschrittler sprühten Feuer und Flamme.
Die im Amte verbliebenen vier Vorsteher erließen gegen die Wahl des Herrn Mannheimer einen Protest an das löbliche Kreisamt, in welchem sie sagten, dass Herr Mannheimer ihrem würdigen Rabbiner in der schroffsten Weise gegenüberstehe und dem Fortschritte in der Gemeinde einen Hemmschuh anlegen würde; es sei sehr zu bedauern, berichteten die Herren an das Kreisamt, dass es in Worms noch 19 Juden gebe, die sich dem Fortschritte widersetzen wollten.
Als größtes Verbrechen wurde in dieser Eingabe Herrn Mannheimer die Opposition gegen die Orgel in der Synagoge vorgeworfen, welche doch der Rabbiner von Worms und sehr viele Wormser Männer, Frauen, Knaben und Mädchen als die höchste Weihe des Gottesdienstes für Sabbate und Feiertage betrachten.
Unglücklicher Mannheimer! Du bist verurteilt. Du böser, verstockter Mensch wagst gegen die Orgel in der Synagoge zu opponieren, trotzdem so viele Wormser Knaben und Mädchen, Männer und Frauen in Verbindung mit einem ehemaligen Breslauer Seminaristen diese für die höchste Weihe des israelitischen Gottesdienstes erklären! Was hilft es Dir, verstockter Sünder, dass die größten Rabbinen, ein Akiba Eger (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Akiba_Eger), ein Moses Schreiber (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Sofer), ein Herz Scheuer (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Herz_Scheuer) und tausende der größten jüdischen Geistesheroen die Orgel im jüdischen Gotteshause für unzulässig erklärt haben und erklären und die Teilnahme an einem Orgelgottesdienste verboten haben und verbieten – warum beugst Du Dich nicht in Demut vor der Geschmacksrichtung der vielen Wormser Knaben und Mädchen, vor der Autorität und dem gediegenen Urteile so vieler Wormser Männer und Frauen, vor den himmelhohen und abgrundtiefen Gelehrsamkeit eines verbreslauerten Rabinnen? Gehe in Dich und tue Buße, Du verirrtes Lamm!
Außerdem wurde manches harte Wort gegen den Privatcharakter des Herrn Mannheimer beigefügt und zum Schlusse wurde die Behörde gebeten, der Wahl des Herrn Mannheimer die Bestätigung zu versagen; zugleich wurde, wenn die Behörde sich nicht dem Willen der Herren Vorsteher füge, mit Niederlegung der Ämter gedroht.
Am 14. März langte vom löblichen Kreisamte der Bescheid herab, dass die Wahl des Herrn Mannheimer nicht ungültig erklärt werden könne, worauf der Vorstand Rekurs an das Großherzogliche Ministerium des Innern ergriff. In dieser Eingabe wurde Herr Mannheimer auf das Schrecklichste mitgenommen.
Mannheimer, wagten diese Herren zu behaupten, gehöre nicht zu den angesehenen Gemeindemitgliedern in Folge seiner Agitationen gegen die fortschrittliche Bewegung!!! Er widerstrebe den Verbesserungen (?) im Gottesdienste, er sei deshalb der böse Geist (sic!) der Friedensstörer!!!
Wahrlich, muss man solchen Behauptungen gegenüber nicht wie Jesaias rufen: 'Wehe (diesen Wormsern), die das Böse gut und das Gute bös nennen, die Finsternis als Licht und das Licht als Finsternis darstellen, die vorgeben, dass das Bittere süß und das Süße bitter sei!'
Wie betört sind doch diese Menschen, wie selbstgewiss; sie halten sich für klüger als die großen Weisen Israels und halten ihren kleinlichen Firlefanz für das Heil Israels und der Menschheit und wer sich ihrem Harmonium und anderm modernen Flitter widersetzt – das ist der böse Geist, wohl gar Satan in höchsteigener Person!
Auch das Kreisamt wird in dieser Eingabe an die höchste Behörde angegriffen; es habe es nicht der Mühe wert gefunden, sich zu überzeugen; keine Verfügung sei rätselhaft oder beklagenswert.
Allein das Großherzogliche Ministerium hat den löblichen Wormser Vorstand keiner direkten Antwort gewürdigt. Unterm 7. Juli zeigt ihm das Kreisamt an, dass das Ministerium seine Beschwerde als unbegründet verworfen habe, worauf denn der Vorstand in corpore seine Entlassung gab, die das Großherzogliche Kreisamt genehmigte und eine Neuwahl von vier Mitgliedern anordnete. Alle           
Worms Israelit 30081871c.jpg (175023 Byte)die gewechselten Schriftstücke haben dann die abgetretenen Vorstandsmitglieder lithographieren (vervielfältigen) und in der Gemeinde verteilen lassen.
Es war wohl nicht anders zu erwarten, als dass auch der in seinem Privatcharakter hart angegriffene und verdächtigte Herr Moses Mannheimer eine Rechtfertigung an die Gemeindemitglieder richtete. Diese ist nun gestern erschienen. Wir bedauern, gestehen zu müssen, dass Herr M. sich nicht dazu auf die Höhe der Situation erhebt. Es ist nicht das Feuer der Begeisterung und der heilige Eifer für die Erhaltung unserer Religion, denen wir in dieser Rechtfertigung begegnen, nicht der wohlberechtigte Zorn über den verkehrten und kleinlichen Sinn der Gegner, die den Kampf für die Religion der Väter als etwas Verderbliches und Schlechtes bezeichnet haben – nein, vor allem dem nichts; bloß eine persönliche Zurückweisung der persönlichen Beleidigungen, Verdächtigungen und Anfeindungen und eine Heimzahlung den Gegnern mit gleicher Münze.
'Was', ruft Herr Mannheimer entrüstet, 'ihr sagt, ich sei kein angesehener Mann? Aber seid ihr denn angesehene Männer? Des Herrn P. Familienleben ist sprichwörtlich, Herr B. gilt bei seinen Kollegen als Mann ohne Verstand, Herr S. ist als 'Schuft' bezeichnet worden und hat diesen Schimpf auf sich sitzen lassen, Herr F. ist nichts als der Bruder seines Bruders, Herr M. bedarf eines Schornsheimer (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/schornsheim_synagoge.htm) Bauern als Schutzredner etc. etc.
Da wir oben die persönlichen Angriffe nicht notiert haben, so brauchen wir uns jetzt auch nicht mit der Zurückweisung derselben aufzuhalten.
Nur so viel wollen wir noch bemerken, dass die Zustände in unserer Gemeinde tief, tief bedauerlich sind. (Hebräisch)
Worms, die einst so heilige, fromme, an talmudischer Gelehrsamkeit unübertroffene, in Deutschland tonangebende jüdische Gemeinde, in der die heiligen Märtyrer, die für die Heiligung des göttlichen Namens gern und freudig ihr Leben hingaben, nach Tausenden zählten – was ist aus Worms geworden? Das Feuer der Begeisterung ist erstorben, die Gesetzestreue ist verschwunden, die Kenntnis der Gotteslehre ist dahin und diejenigen, welche es wagen, für die Religion der Väter einzustehen, werden als der leibhaftige Teufel (böse Geist) derart angeschwärzt, dass sie selbst in ihrer Verteidigung für ihre Prinzipien einzustehen Anstand nehmen.
Vielleicht ist die Bloßlegung dieser verfaulten und verkommenen Zustände dazu geeignet, eine Erhebung und Besserung zu erwirken. L."
Anmerkungen: Zu Rabbiner Alexander Stein siehe auch Artikel zu seinem Tod 1914 auf Seite zu den Rabbinern (interner Link)   
Zu Rabbiner Jakob Koppel Bamberger siehe
auch Artikel zu seinem Tod 1864 auf der Seite zu den Rabbinern (interner Link)  
Außer Moses Mannheimer war auch Rabbiner Dr. Benedikt Levi (1806 – 1899) ein Schüler von Rabbiner Bamberger vgl. Artikel auf einer Seite zu Gießen (interner Link).
    

 
Über die jüdische Gemeinde in Worms (Beitrag von 1885)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18. Mai 1885: Abbildung links: Inneres der Frauen-Synagoge zu Worms.
"Worms (Mit Illustration.) Die israelitische Gemeinde zu Worms ist eine der ältesten, vielleicht die älteste in Deutschland. Das Minhag-Buch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)), ein im Jahr 1625 geschriebenes Manuskript, erzählt, dass während einer Judenverfolgung im Jahre 1615 ein Leichenstein zertrümmert worden sei, welcher damals viel über 1.500 Jahre alt gewesen. Es scheinen demnach die Juden mit den Römern sich am linken Rheinufer angesiedelt zu haben. Die Sage erzählt, dass ein junger Mann aus dem uralten Dynastien-Geschlecht Dalberg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)) oder, wie man früher sagte, Dahlburg, der im römischen Heere mitkämpfte, bei einem Kriegszuge der Römer nach Palästina gekommen und in Jerusalem krank und verlassen zurückgeblieben sei; ein Einwohner der heiligen Stadt habe ihn in sein Haus aufgenommen, ihn bis zu seiner Genesung verpflegt und dann mit Reisegeld versehen. Der junge Dalberg kehrte in die deutsche Heimat zurück und trat, da sein Vater unterdess gestorben, die Herrschaft seiner Länder an, wozu auch die Stadt Worms gehörte. Als er einige Jahre nachher vernahm, dass Jerusalem von den Römern erobert und zerstört worden, schickte er einen Boten ab und ließ seinen Gastfreund auffordern, mit seinen Freunden und Verwandten zu ihm nach Worms zu kommen; freudig sei der Gastfreund diesem Rufe gefolgt und so der Begründer der israelitischen Gemeinde zu Worms geworden.
Die alte Synagoge zu Worms deren Inneres wir unseren geehrten Lesern heute im Bild vorführen, ist eines er herrlichsten Baudenkmäler aus der ersten Hälfte des Mittelalters. Sie wurde im Jahr 4794 (1034) von Jakob, dem Sohne Davids und seiner Gemahlin Rachel an der Stelle einer ältern, baufällig gewordenen Synagoge erbaut, wie eine von Stein ausgehauene, große, gereimte Inschrift besagt. Im siebzehnten Jahrhundert der gewöhnlichen Zeitrechnung, wahrscheinlich im Jahr 1624 (9 Jahre nach der oben erwähnten            
Worms Israelit 18051885b.jpg (388712 Byte)Judenverfolgung) wurde die Synagoge renoviert, meistens auf Kosten des Vorstehers Davids, Sohn des Josua Joseph Oppenheim. Er war es auch, der das prächtige Almemor (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bima) errichten ließ. In der heiligen Lade (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Toraschrein) befindet sich eine auf Hirschfellen geschriebene Torarolle, deren Schreiber der berühmte Rabbi Meir von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) gewesen sein soll. – Die ewige Lampe (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Ewiges_Licht) vor dem Aron Hakkadosch (Toraschrein, heilige Lade) trägt die Inschrift (Hebräisch und deutsch:) 'die ewige Lampe der beiden Gäste'. Es wird berichtet, dass einst ein totes Kind aufgefunden, und die Juden beschuldigt, dasselbe getötet zu haben (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende). Die ganze Gemeinde, Männer, Frauen und Kinder sollten dem Tode verfallen, wenn der Mörder des Kindes nicht namhaft gemacht würde. Das konnte aber nicht geschehen, denn die Juden waren unschuldig am Tod des Kindes. Schon loderte der Scheiterhaufen, auf welchem tausende Unschuldige verbrannt werden sollten. Da kamen zwei fremde, schöne Jünglinge des Weges, und als sie erfuhren, um was es sich handelte, gaben sie, rasch entschlossen, sich selbst als Mörder an, um die tausende ihrer Glaubensgenossen zu retten. Sie wurden verbrannt, und die dankbare Gemeinde widmete ihren Andenken die ewige Lampe. Nie hat man ihre Namen, nie ihren Stand, nie ihre Heimat erfahren. Die Sage erzählt, dass aus dem Scheiterhaufen zwei Tauben gen Himmel geflogen seien, dass es Engel gewesen, die Gott zur Rettung der bedrängten Unschuld geschickt und die in Gestalt von Tauben zum allgütigen Vater im Himmel zurückgekehrt seien.
Neben der Synagoge befindet sich links vom Beschauer ein enges Gässchen. Hier hat die Synagogenmauer eine merkwürdige, unerklärliche Vertiefung. Die Sage weiß den Grund dafür anzugeben. Als einst die Mutter des berühmten Rabbi Jehudah Hachassid (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) durch dieses Gässchen ging, zur Zeit als sie ihren später durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit ausgezeichneten Sohn im Mutterschoße trug, fuhr ein roher Mensch durch dasselbe und wollte die Frau überfahren. Die Geängstigte drückte sich an die Mauer, und siehe, die Steine hatten mehr Erbarmen als der grausame Mensch. Die Mauer trat zurück, der Wagen fuhr vorüber und die Mutter und ihr ungeborener Sohn waren gerettet. Seitdem sei die Mauer in dem Zustande verblieben, den sie im Augenblicke der Gefahr angenommen.
Sehr merkwürdig ist auch der alte israelitische Friedhof zu Worms. Der älteste der noch erhaltenen Leichensteine stammt aus dem Jahr 4660 (900); es ist wohl der älteste Leichenstein, der eine Jahreszahl trägt. (Der von uns im Jahre 1858 in Mainz aufgefundene Leichenstein des Mainzer Rabbiners Rabbana Meschullam ben Rabbana Rabbi Kalominos aus Lucca (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Meschullam_ben_Kalonymos), der ebenfalls aus dem zehnten Jahrhundert stammt, trägt keine Jahreszahl.) Gleich, am Eingange des Friedhofes befindet sich das Grabmal des berühmten, von uns bereits oben erwähnten Rabbi Meir von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg). Diesen größten Gelehrten seiner Zeit hatte Graf Meinhard von Görz (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meinhard_II.) im Jahre 1286 gefangen nehmen lassen, um dadurch von den Juden Geld zu erpressen. Er lieferte ihn dann an den deutschen Kaiser, Rudolph von Habsburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) aus, der den Gefangenen in einem festen Turm verwahren ließ. Die beiden großen Schüler des Rabbenu (Rabbiner) Meir, Rabbenu Ascher ben Jechiel (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ascher_ben_Jechiel) und Rabbenu Mordechai ben Hillel (vgl. https://www.deutsche-biographie.de/sfz65370.html) reisten in der Welt umher, um das hohe Lösegeld aufzubringen. Aber der edle Rabbi Meir erlaubte nicht, dass man ihn auslöse, auf dass sich solche Gewalttaten nicht wiederholen möchten. Sieben lange Jahre schmachtete er im Gefängnisse, da starb er. Aber auch nach seinem Tod weigerte man der Leiche das Begräbnis, bis es vierzehn Jahre nachher einem frommen Juden namens Alexander Süßkind Wimpfen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen) von Frankfurt a. M. unter Aufopferung seines ganzen Vermögens gelang, die Leiche des großen Mannes nach Worms zum Begräbnisse zu bringen. Ihm soll in der Vornacht des Versöhnungstages (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) Rabbenu (Rabbiner) Meir erschienen sein und ihn gefragt haben, ob er als Belohnung Reichtum und langes Leben oder die ewige Seligkeit wolle; im letzteren Falle jedoch müsste er bald sterben; Alexander wählte die ewige Seligkeit. Er starb an dem darauffolgenden Tage während des Neilah-Gebetes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Neïlah) und wurde an der Seite des von ihm bestatteten großen Mann beigesetzt.- Auch der berühmte Rabbiner von Mainz, Rabbi Jakob Möln, bekannt unter dem Namen Maharil (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), liegt hier begraben. Als im Jahre 1420 die Juden aus Mainz vertrieben wurden, siedelte er nach Worms über, woselbst er noch sieben Jahre lebte. Um dieses Grab liegen im Halbkreise eine Reihe berühmter Rabbiner: Rabbi Simson Bacharach, Verfasser des Chasat Hascheni, Rabbi Chaim Bacharach, Verfasser des Chawwot Ja'ir (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), Rabbi Elia Loanz (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans), bekannt unter dem Namen Rabbi Elia Baal Schem, ein Enkel des berühmten Rabbi Joselmann von Rosheim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Josel_von_Rosheim), des kaiserlichen Befehlshabers der gesamten deutschen Judenschaft, und viele andere. - Es befinden sich auf diesem Friedhofe auch die Leichensteine vieler Männer, die für die Heiligung des göttlichen Namens ihr Leben hingegeben. Wehmutsvoller noch als diese Erinnerungen aus alter Zeit stimmen die Besucher die tieftraurigen     
Worms Israelit 18051885c.jpg (415999 Byte)Abbildung links: Inneres der Synagoge zu Worms.
Erscheinungen der Gegenwart. In der alten ehrwürdigen Synagoge hat man eine kleine Orgel (Harmonium) angebracht, dessen Klänge in unjüdischer Weise den Gottesdienst begleiten; aus der Frauen-Synagoge, die neben der Männer-Synagoge liegt, hat man die Scheidewand entfernt, sodass Männer und Frauen sich unmittelbar nebeneinander befinden. Noch Schlimmeres erblickt man auf dem Friedhof. Im Angesichte der Denkmäler der großen und heiligen Männer und Frauen befindet sich ein Leichenstein, der einer jungen Dame gesetzt wurde, die vor etwa zwei Jahren starb. Dieser Leichenstein trägt die in Marmor ausgehauene Büste der Verstorbenen!!! Wir glauben kaum, dass auf dem weiten Erdenrunde so etwas sich wiederfindet.
Von dem neben der Wormser Synagoge gelegenen Beth Hamidrasch (Lehrhaus) unseres großen Lehrers Raschi (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) wollen wir in einem folgenden Artikel berichten."    

       
Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (I. Die Geschichte von den zwei Gästen, 1892)       

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4. Oktober 1892: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche. Von S.(amson) Rothschild- Worms
Die Geschichte von den zwei Gästen (
Schnei Orachim = zwei Gäste) Es war kurz vor dem Pessachfeste. Eine Prozession zog durch die Judengasse. Niemand hatte hiervon eine Ahnung. So kam es, dass unbewusst eine Flüssigkeit auf die Straße geschüttet wurde, welche zufälligerweise ein Kruzifix traf. Eine allgemeine Erregung bemächtigte sich der bei der Prozession beteiligten Personen. 'Das haben die Juden gern getan', rief es von allen Seiten. Die erregte Menge verlangte nach dem Unglücklichen, auf dass er seine unschuldige Tat mit dem Leben büße. Man gewährte den Juden eine Frist bis zum 7. Tage Pessach (Schwi'i schäl Pessach). Sollte der Täter bis dahin sich immer noch nicht genannt haben, dann sollten alle Juden der Judengasse für die Tat büßen; sie sollten getötet werden. Der traurige Tag kam heran. Anstatt Freude herrschte Trauer in der Judengasse. Die herrlichen Worte (Hebräisch) hatten für die Bewohner derselben die Bedeutung verloren, denn schon freute sich der Pöbel der bald beginnenden Mordtaten. Da öffnete der Synagogendiener am Morgen, als er die Leute zum Gottesdienste rief, das Tor der Judengasse. Zwei in Worms unbekannte Männer standen vor demselben und begehrten Einlass. 'Wer seid Ihr?' 'Wo kommt Ihr her und noch am Jomtof (Festtag)?' 'Was ist Euer Begehr?' redete sie der Synagogendiener an. 'Wisst Ihr nicht, welches Unglück uns arme Juden heute noch bevorsteht?'       
Wenn Euch Euer Leben lieb und teuer ist, setzet Euren Fuß nicht in diese unglückliche Gasse, die heute noch getränkt wird von dem unschuldigen Blute vieler unserer unglücklichen Brüder. Meidet so schnell als möglich die Stätte, in der man in wenigen Stunden nichts hören wird, als das Jammern und Stöhnen der Sterbenden, nichts sehen wird, als das verzweifelte Händeringen der in den Tod Gejagten!' 'Traurig ist allerdings die Botschaft, die Du uns bringest', antworteten die Fremden, 'aber sie ist uns nicht neu, wir hörten in der Ferne von dem Unglücke, das den Wormser Juden bevorsteht und so sind wir hierher gekommen, um sie von demselben zu retten. Wir wollen uns als die Täter bekennen.' In der 'Gasse' verbreitete sich schnell die Nachrichten von der Ankunft und Absicht der beiden Männer. Man brachte sie auf den Richtplatz und als sie hier der harrenden Menge ihre Absicht kundgegeben hatten, vollzog man an ihnen unter den entsetzlichsten Schmerzen die Todesstrafe. Sie hauchten ihre reinen Seelen aus und retteten dadurch eine ganze Gemeinde von einem schrecklichen Tode. 'Wer die zwei Gäste gewesen,' schließt das Maaseh-Nissim-Buch, 'weiß man bis auf den heutigen Tag nicht. Es ist möglich, dass der Allgütige zwei Engel in Gestalt von Menschen geschickt hat, um das unsägliche Elend von der Gemeinde abzuwenden.' So das Maaseh-Nissim-Buch. Heute aber brennt ncoh die jüdische Gemeinde aus Dankbarkeit das ganze Jahr hindurch zwei Lichter für die unbekannten schnei Orachim (zwei Gäste). Damit auch die Erinnerung an eine solche edle Tat in hiesiger Gemeinde stets wach erhalten werden, vernehmen wir alljährlich am schwi'i schäl pessach (am 7. Tag des Pessach-Festes) sowohl in hebräischer, als auch in deutscher Sprache das 'Memern' die die 'beiden Unbekannten'.  

  
Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (II. Die Familie Dalberg, 1892)    

Worms Israelit 17101892a.jpg (410920 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17. Oktober 1892: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche. Von Samson Rothschild - Worms.  
II. Die Familie Dalberg.
Etwa dreiviertel Stunden von Worms entfernt, liegt das große und sehr hübsche Dorf Herrnsheim. Am Ende desselben erblicken wir ein großes und prächtiges Schloss inmitten eines sehr schönen und ausgedehnten Parkes. Es ist das Stammschloss der Freiherrlichen Familie von Dalberg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)), jetzt dem Freiherrn Heyl zu Herrnsheim in Worms gehörig. In der deutschen Geschichte spielt diese Familie seit Friedrich Barbarossa eine große Rolle. Ein Dalberg rettete dem genannten Kaiser bei einem Aufstand in Rom das Leben; zur Erinnerung an diese Heldentat rief bei jeder späteren Kaiserkrönung der Herold: 'Ist kein Dalberg da?' War ein solcher anwesend, so empfing er vom Kaiser die erste Ernennung zum Reichsritter. Der Familie sind namentlich viele hohe geistliche Würdenträger entsprossen; u.a. Wolfgang, Erzbischof und Kurfürst von Mainz (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_X._von_Dalberg, 1582 – 1601), Adolf, der Begründer der Universität zu Fulda (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_von_Dalberg). Hervorzuheben sind noch: Karl Theodor Anton Maria von Dalberg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Theodor_von_Dalberg), 1810 durch Napoleons Gnade zum Großherzog von Frankfurt a. M. ernannt, und Wolfgang Heribert von Dalberg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Heribert_von_Dalberg), Bruder des vorigen, bekannt als Intendant des Mannheimer Theaters (vgl. https://www.marchivum.de/sites/default/files/2018-03/Nationaltheater.pdf) und Förderer Schillers (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Schiller). Über die Familie von Dalberg schreibt das Nissim-Buch:
'Als ich im Jahre 1623 nach Worms kam, um auf der dortigen Schule zu Füßen des Rabbi Elias: genannt 'Bal schem' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Israel_ben_Elieser) rabbinischen Studien zu obliegen, erzählte mir derselbe, dass Worms zu den jüdischen Gemeinden zähle, welche schon zur Zeit der Zerstörung des ersten Tempels (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jerusalemer_Tempel) bestanden hatten. Gleichzeitig erzählte er mir von dem fürstlichen Geschlechte der Dalberger, wie diese sich so edel gegen die Juden gezeigt und zwar aus folgendem Grunde:
Ein junger Dalberg hatte das Bedürfnis, die Welt kennenzulernen. Zu diesem Zwecke machte er große Reisen. Die Absicht, sich in der arabischen Sprache auszubilden, führte ihn nach Jerusalem. Hier lebte der junge Dalberg in sehr verschwenderischer Weise, ohne dass er dabei im Erlernen der arabischen Sprache große Fortschritte gemacht hätte. Plötzlich erkrankte er auf der Straße sehr bedenklich. Niemand kümmerte sich um den Unglücklichen, der auch, da er in deutscher Sprache redete, von den Vorübergehenden nicht verstanden wurde. Nur ein Jude erbarmte sich seiner. Er nahm ihn in sein Haus auf und pflegte ihn mit großer Aufmerksamkeit und Liebe. Da auch die ärztliche Hilfe sofort in Anspruch genommen wurde, genas der junge Dalberg sehr bald. Nach überstandener Krankheit bemühte er sich nun sehr eifrig, die arabische Sprache zu erlernen, blieb jedoch so lange im Hause des Juden, bis er wieder von Jerusalem abreiste, nachdem der Jude für ihn alle seine Ausgaben bestritten hatte. Als der Sohn nach Hause kam, erzählte er seinem Vater von der aufopfernden und uneigennützigen Liebe des Juden zu Jerusalem. Natürlich erstattete er Letzterem alle seine Auslagen mit den herzlichsten Dankesworten zurück. Als nun der Vater bald nach der Rückkehr seines Sohnes starb und dieser die Stelle des Vaters einnahm, da schrieb er die Geschichte seiner Rettung zu Jerusalem in eine Chronik mit der Bemerkung, dass er es allen Dalbergern bis in die spätesten Zeiten zur Pflicht mache, sich stets freundlich gegen die Juden zu zeigen. Daher wäre auch der Brauch gekommen, dass bei jeder Beerdigung oder bei jeder Trauung innerhalb der jüdischen Gemeinde zu Worms 2 Dalberger Diener mit einem Stabe in der Hand dem Zuge vorangegangen seien. Ebenso erzählte mir Rabbi Elias 'Bal Schem' , wie an der Eroberung der Stadt Jerusalem einst* (*wahrscheinlich zur Zeit der Kreuzzüge) auch ein Dalberger teilgenommen habe. Er erinnerte sich des schriftlich hinterlassenen Wunsches seiner Eltern und nicht nur, dass er den Juden jenen Schutz angediehen ließ, er nahm auch eine große Anzahl derselben mit in seine Heimat, wies ihnen unentgeltlich ein großes Grundstück an, damit sie sich hier anfällig machen könnten und erneuerte die schon früher bestandene Bestimmung seine Ahnen, dass bei jüdischen Beerdigungen und Trauungen stets 2 Dalberger Diener mit einem Stabe in der Hand dem Zug vorangehen sollen.'
Gehört diese Geschichte des Nissim-Buches in das Gebiet der 'Wahrheit und Dichtung'? Vielleicht bietet sich mir bald einmal Gelegenheit, einen Blick in die Geschichte des Hauses Dalberg zu werfen, um zu sehen, inwieweit die dortigen Aufzeichnungen mit denen des Nissim-Buches übereinstimmen oder nicht. Bis dieses geschehen, gibt uns auch das Archiv der jüdischen Gemeinde dahier einigen Aufschluss. Wir begegnen dort mehreren Schriftstücken, von denen nicht alle den humanen und wohlwollenden Geist gegen die Juden atmen. So ist in einem Aktenstücke vom 10. Mai 1563 von einem Vertrag die Rede zwischen den Kämmerern von Dalberg, nämlich 'Friedrich und Wolff der Ältere, Philipp und Wolff der Junge, alle Kämmerer von Worms (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kämmerer_von_Worms), aufgericht mit gemeiner Judenschaft zu Wormbs, daß ihnen keiner unserer unterthänen uff liegende Güter und fahrend Hab oder Pfand mehr leihen soll, desgleichen, was sie jedesmal für das Gleiche zu ihren Hochzeiten und Begräbnissen geben sollten.' Ein weiteres Schriftstück vom 13. September 1702 enthält eine Bittschrift der Vorsteher gemeiner Judenschaft zu Worms an
Worms Israelit 17101892b.jpg (69773 Byte)den Domcapitularen und Erzpriester vom Dalberg zu Mainz, die jüdischen Hochzeits- und Trauerzüge durch seine Schaffner und Bedienten des Schutzes wegen in geziemender Kleidung begleiten zu lassen, nicht aber wie zuletzt durch Buben in zerlumpten Kleidern und ohne Schuhe und Strümpfe, welche nicht allein keine Wissenschaft von solcher Begleitung haben.'
Aber die Fälle, in welchen die jüngere Generation der Dalberger den Traditionen ihres Hauses in Bezug auf die Juden untreu geworden sind, treten in den Hintergrund gegen eine große Anzahl von solchen, wo der dankbare Genius der Dalberger schützend und schirmend treue Wacht gehalten hat an dem Tore, hinter dem sich auftat eine Welt von unsagbarem Leide, von vielem Kummer, dem preisgegeben waren – die Bewohner der Wormser Judengasse.".      

 
Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche" (Die Zaubergans, 1893)      

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 3. August 1893: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche*. (Hierzu die Illustration auf unserer Extrabeilage)
*Aus dem soeben erschienen 'Aus Vergangenheit und Gegenwart der israelitischen Gemeinde Worms'. Von Samson Rothschild, Mainz, Joh. Wirth’sche Hofdruckerei A.G. (60 Pfennige)
Die Zaubergans. Es war im Jahr 1643. Eine epidemische Krankheit hatte viele Bürger von Worms dahingerafft. Nur an dem Tore, das zur Judengasse führt, hatte der Todesengel Halt gemacht. Dieser Umstand genügte den aufgeregten Massen, um die Schuld der Epidemie den Juden aufzubürden. Sofort wurden Zeugen gedungen, die es mit angesehen haben sollen, wie in mitternächtlicher Stunde die Juden die Brunnen vergiftet hätten. Es wurde deshalb beschlossen, dass sämtliche Juden an einem festgesetzten Tag (10. Adar, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adar_(Monat)) umgebracht werden sollten. Kaum hatten die Unglücklichen von dieser unmenschlichen Anklage Kunde erhalten, als sie sich zu dem Bürgermeister begaben, diesem ihr tiefes Leid klagten und ihre Unschuld beteuerten. Der Bürgermeister wollte von der so schweren Anklage nichts wissen und sprach zu ihrer Beruhigung: 'So wenig dieses kleine Stäbchen in meiner Hand die eiserne Kette an meinem Tore zu sprengen vermag, ebenso wenig wird Euch ein Leid treffen.' Aber wie erstaunten er und die Unglücklichen, als plötzlich die eiserne Kette brach. Totenblass sprach er: 'Euer Unglück muss von Gott beschlossen sein, sonst hätte mein dünnes Stäbchen diese starke Kette nicht brechen können. Leider vermag ich nicht für Euch zu tun.' Kummer und Elend war wieder einmal in der Judengasse eingekehrt. Endlich nahte der traurige Tag. Die 12 Vorsteher der jüdischen Gemeinde (12 Parnassim) begaben sich noch einmal auf das Rathaus, um den dort versammelten Ratsherren in den ergreifendsten Worten die Unschuld der Juden zu schildern. Aber ihr jammervolles Bitten und Stöhnen war erfolglos. Kein Mitleid regte sich in dem Herzen ihrer Widersacher. Da erfasste Verzweiflung die Unglücklichen, die sich und die ihrigen rettungslos verloren sahen, und sie stürzten sich, ihrer selbst nicht mehr mächtig, auf ihre Gegner und im blutigen Handgemenge fanden sie alle mit mehreren Ratsherren ihren Tod. Kaum war die Kunde hier von in die Massen gedrungen, als ein schreckliches Würgen in den Straßen begann. Endlich hatte der Würgeengel, der eine so blutige Ernte gehalten, dem Engel des Mitleids den Platz geräumt. Eine Anzahl braver Familien nahm die wenigen noch übrig gebliebenen Juden ins Haus auf, um sie den grimmigen Blicken der Feinde zu entziehen. Niemand hatte eine Ahnung, dass manche christliche Familie, welche von der Unschuld der Juden überzeugt war, diese in ihren Räumen beherberge. Da suchte der Spürsinn der Wahnbetörten durch Zauberei auch diese noch zu ermitteln. Eine Gans flog auf alle Häuser, in denen sich noch Juden befanden, und so wurden auch diese noch in den Tod gehetzt. Während dieser traurigen Zeit der Verfolgungen, lebte in Worms ein frommer Jude, der mit talmudischer Gelehrsamkeit auch hervorragende Kenntnisse auf anderen Wissensgebieten verband und deshalb mit dem Pfarrer in näherer Beziehung stand. Diese Tatsache schützte ihn vor Verfolgung. Als nun der Pfarrer sich eines Tages zur Kirche begeben wollte, machte ihm dieser den Vorschlag, ihn als Pfarrer vorzustellen, damit er heute die Predigt halte. Sein Schützling willigte ein. Mit hinreißender Beredsamkeit schilderte der vermeintliche Geistliche die Leiden der Juden, fragte die Anwesenden, ob das Gebot: 'Du sollst nicht morden!' für sie nicht in der Bibel stünde, und ob sie es vor ihrem gesunden Menschenverstande       
Worms Israelit 03081893b.jpg (383478 Byte) verantworten können, einer Zaubergeschichte so viel Bedeutung beizulegen! Die in der Kirche herrschende Andacht ließ den Prediger erkennen, dass seine Worte den Weg zum Herzen gefunden hatten. Um aber seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, schloss er seine Predigt wie folgt: 'Ihr werdet Euch überzeugen, dass ich recht gesprochen, wenn ich Euch soeben ans Herz gelegt habe, Euch von den Untaten fortan fernzuhalten, zu denen Ihr Euch von einer verzauberten Gans habt verleiten lassen. Ihr habt doch sicher die Überzeugung, dass sich hier in der Kirche kein Jude befinde, und doch wird wie auf andern Häusern, bald auf dem Giebel des Kirchendaches die Gans zu erblicken sein.' Die Menge eilte aus der Kirche, um sich zu überzeugen, und wirklich gewahrte sie auf dem Kirchdache die Zaubergans. Man glaubte den Worten des vermeintlichen Pfarrers und unterließ es, die Juden weiter zu verfolgen. Die Erinnerung an jene Leidenszeit hat die Wormser israelitische Gemeinde dadurch festgehalten, dass sie den 10. Adar zu einem Fasttage einsetzte.
Noch heute bezeichnet auf dem hiesigen Friedhofe ein einfacher Stein in der Hälfte der Mauer, welche die Südseite des Friedhofs umgibt, die Stätte, auf welcher man die 12 Vorsteher (12 Parnassim) zur ewigen Ruhe gebettet hatte. Der Volksmund bringt die steinerne Gans auf der Martinskirche (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martin_(Worms)) mit der soeben erzählten Geschichte des Nissim-Buches in Verbindung.
Eine Geschichte von Raschi und woher das Sprichwort kommt: Drei Mann und ein Rosskopf. Wer kennt nicht Rabbi Salomo ben Isak, im Volksmunde Raschi genannt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi), mit seinen Kommentaren über Bibel und Talmud (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Talmud)? Dieser Raschi unterhielt in Worms eine Lehrschule und gar viele Schüler saßen zu seinen Füßen, um andächtig den Worten des Meisters zu lauschen. Über das Weichbild der Stadt hinaus war der Ruf Raschis gedrungen und auch nichtjüdische Persönlichkeiten suchten die Nähe des großen Mannes auf, um seine Ansichten über wichtige Dinge zu hören. So kam denn eines Tages auch der Herzog von Lothringen, Gottfried von Bouillon (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_von_Bouillon), im Jahre 1096, im Begriffe gegen die Türken zu ziehen und Jerusalem zu erobern, nach Worms. Er suchte Raschi auf und wünschte dessen Ansicht über seinen Kriegsplan zu hören. Nach kurzem Besinnen verkündete ihm Raschi, dass er die Türken besiegen, Jerusalem und noch andere Orte erobern werde. Viele Schätze werden in seine Hände fallen und sein aufgenommenes Werk werde dadurch gekrönt, dass man ihn zum Könige von Jerusalem ausrufen werde. Doch nicht von langer Dauer werde das Glück sein. Die Türken werden die erlittene Schmach nicht lange ertragen. Mit verstärktem Heere werden sie gegen Euch ziehen. Das Glück, das Euch anfangs so hold war, wird sich von Euch abwenden. Die Türken werden wieder Herren von Jerusalem werden. Viele von Euch durch das Schwert fallen, andere durch eine Epidemie dahingerafft werden. Während Ihr in so stattlicher Zahl von hier ausziehet, werden die Zurückkommenden nur aus '3 Mann und einem Rosskopf' bestehen. Du wirst meinen Rat, fügte Raschi hinzu, den Zug nicht zu unternehmen, zwar nicht befolgen, aber du wirst Dich doch noch überzeugen, dass ich wahr gesprochen habe. Mit großem Erstaunen und immer wachsender Erregung lauschte der Herzog den Worten Raschis; doch schienen besonders die letzten Worte: 'Drei Mann und ein Rosskopf' ihn sehr nachdenklich zu stimmen. Er mochte noch so sehr in Raschi drängen, ihm doch den dunklen Sinn dieser Worte zu erklären; immer erhielt er das bereits Gesagte ohne jegliche Deutung zur Antwort. Der Herzog, durch die prophetischen Mitteilungen Raschis, dass das Glück sich anfangs ihm sehr zuwenden werde, noch mehr bestärkt, beschloss, den Kriegszug fortzusetzen. Gottfried verließ mit seinen Truppen Worms. Der Kampf mochte im Heiligen Land noch so sehr toben; immer begleitete den Herzog die ehrwürdige Erscheinung Raschis, denn das Glück war ihm bei seinen Unternehmungen so hold, dass alle Prophezeiungen Raschis vollkommen eintrafen. Doch auch das Unglück stellte sich in solchem Maße ein, dass er nur mit vier Mann und einem Pferde gen Worms einzuziehen vermochte. Schon schmiedete er in seinem Innern verwerfliche Pläne, weil die Prophezeiung Raschis sich nicht in vollem Maße erfüllte, da war er an dem Stadttore angekommen. Doch kaum öffnete sich für ihn dasselbe, als ein Balken des Tores herunterfiel, einen Mann tötete und auch das Pferd, dessen größerer Teil außerhalb des Tores lag, während drei Mann und der Rosskopf sich in der Stadt befanden. Jetzt fühlte er mit wuchtiger Schwere die Bedeutung der Worte Raschis und schnell eilte er nach dessen Wohnung, um ihn, wie er versprochen, fürstlich zu belohnen. Doch Raschi war in der Nacht – gestorben. Wie gerne hätte er ihm so vieles Wichtige aus dem Heiligen Lande erzählt. –
Viele Jahre vergingen. Da kamen Nachkommen des Herzogs von Lothringen abermals nach Worms. Mit besonderer Vorliebe zeigten sie den Juden prächtige Gegenstände von David und Salomo, die ihr Ahn einst aus Jerusalem mitgebracht habe. Ganz besonders erregte ein großes Messer in einer       
Worms Israelit 03081893c.jpg (391914 Byte)silbernen Scheide auf welchen die Worte gestanden haen: David, Sohn Isays, (David Gen Isai) ihr allgemeines Interesse. -
Das Nissim-Buch schließt diese Erzählung mit den Worten: 'Nun könnt Ihr sehen, was Raschi für ein großer Mann gewesen, fast ein halber Prophet. Gott soll uns die Früchte seiner Gelehrsamkeit genießen lassen.'
Die Rabbi-Juda-Chasids-Mauer. Der Fremde, der nach Worms kommt, um die vorhandenen Denkmäler aus alter und neuer Zeit zu besichtigen, wird wohl auch nach der Judengasse gehen, um hier die Synagoge zu sehen. Gleich wird er aber auch nach der 'eingedrückten Mauer' fragen, ob dieselbe noch vorhanden sei oder nicht. Diese ist allerdings noch vorhanden und das 'Nissim-Buch' erzählt darüber Folgendes: Eine brave, fromme Frau befand sich einst auf dem Wege zum Gotteshause in dem engen Gässchen neben der Frauensynagoge. Sie hatte dasselbe noch nicht verlassen, als ein Wüterich mit seinem Wagen plötzlich in dasselbe einlenkte, um die arme Frau zu überfahren. Wütend trieb er seine Pferde auf die Unglückliche; totenblass drängt sich diese an den kalten Stein. Schon empfiehlt sie in Todesangst ihre Seele dem Allsehenden, als plötzlich die Mauer zurückweichet und ihr Schutz gewährt vor der schrecklichen Tat. Wenige Monate nachher genas die Frau eines Knaben, welcher später unter dem Namen Rabbi Jehuda Hachasid (der Fromme) bekannt wurde.
Der Sohn des Bürgermeisters. In Worms lebte ein von allen Bürgern noch angesehener Mann, dessen Sohn jedoch dem Vater sehr unähnlich war, und es immer darauf abgesehen hatte, auf dem Gange zur Schule und bei der Heimkehr die Juden durch Schimpfen und Steinewerfen zu belästigen. Man wusste allgemein, dass der Vater ein derartiges Benehmen seines Sohnes durchaus nicht billigte. Nachdem dieser aber seine rohe Handlungsweise nicht einstellte, gab man dem Vater davon Kenntnis, welcher nicht wenig erschrak. Doch als seine eindringlichsten Ermahnungen nichts nützten, machte der Vater dem Lehrer hiervon Anzeige, welcher den Jungen hart bestrafte. Die Strafe des Lehrers hatte scheinbar wohl den gewünschten Erfolg; aber es entwickelte sich gleichzeitig in dem Herzen des Jungen das Gefühl der Rache gegen die Juden, das sich mit jedem Tage steigerte. Als der Junge zu einem Studenten herangewachsen war, machte er einer Anzahl seiner Kollegen den Vorschlag, sich als Krieger zu verkleiden, Offiziere zu ernennen, und in militärischer Ordnung den Weg zur Judengasse einzuschlagen. Gewiss wird man uns dort sehr freudig empfangen. Wir laden die Juden ein, auf dem freien Weg zu erscheinen, um sich an unserem militärischen Schauspiel zu ergötzen. Sind sie nun, nichts Böses ahnend, alle erschienen, dann töten wir sie. Auf einen derartigen schlimmen Ausgang waren die übrigen Studenten nicht gefasst und einstimmig gaben sie ihrem Freunde ihr Missfallen zu erkennen, mit der hinzugefügten Bemerkung, dass ihnen nichts ferner liege, als unschuldiges Blut zu vergießen. Erst nach langem festgesetztem Drängen entschlossen sie sich, den Freund nur dann in seinem fürchterlichen Plane zu unterstützen, wenn er als 'Oberster des Regiments' die erste Mordtat vollbringe. Damit einverstanden, kaufte er sich sofort ein scharf geschliffenes Messer und mit flatternden Fahnen und klingendem Spiele setzte sich der Zug nach der Judengasse in Bewegung. Da die Bewohner derselben nichts Schlimmes ahnten, eilten sie alle herbei. Doch kaum waren sie auf dem freien Platze erschienen, als plötzlich der 'Oberst' sein Messer hervorholt und dasselbe auf den ihm nächststehenden Juden zückt. Da ward ihm plötzlich schwach, so dass er das Messer sinken ließ und selbst zur Erde fiel. Die Juden eilten herbei und nicht achtend, wer er sei, und was er zu tun beabsichtigte, kamen sie ihm zu Hilfe, eilten zur Apotheke und pflegten ihn so lange, bis er sich wieder erholt hatte. Der Wiedergenesene freute sich, dass Gottes Fügung ihn von der Ausführung einer so schrecklichen Tat ferngehalten hatte. Mit dem Gelöbnis im Herzen, diese edle Tat der Juden nie zu vergessen, schied er aus der Gasse. Und was er in seinem Innern feierlich gelobt, hat er als Ehrenmann gewissenhaft gehalten. Nicht nur so lange als sein Vater noch lebte, sondern auch als dieser gestorben und er als dessen Nachfolger wirkte, immer zeigte er sich, seinem Versprechen treu, als aufrichtiger Freund der Juden.
Der Name der Stadt 'Worms' und der Schlüssel zu ihrem Wappen. Zur Zeit, als Worms noch eine sehr große Stadt gewesen, lagerte einst ein aus der Wüste entflohener Lindwurm vor ihren Mauern. Er wird beschrieben: Zwei Füße, von hinten aussehend wie ein Wurm, sein Rachen spie Feuer und hatte zwei Reihen großer und spitzer Zähne. Seine Augen waren glühenden Kohlen gleich. Schon sein Bild, das außen an der Münze auf dem Marktplatze angebracht war, erregte Schrecken, noch viel mehr aber erregten ihn die Verheerungen, die er an Menschen und Vieh, an Häusern und Feldern angerichtet hatte. Alle Versuche, dies Ungeheuer zu töten, waren vergeblich. Große Furcht bemächtigte sich die Bewohner von Worms. Um das Wüten des    
Worms Israelit 03081893d.jpg (360543 Byte)Lindwurms zu besänftigen, wurde eine Liste aller Bewohner aufgestellt und das Los gezogen, wer dem Ungeheuer als Speise vorgeworfen werden sollte. Nachdem die Opfer jedoch allzu zahlreich geworden waren, weigerte sich die Bürgerschaft der weiteren Auslosung, und es entstand ein gefährlicher Hader in der Stadt. Um die Bürger zu beruhigen und ihnen ein Beispiel von Opfermut zu geben, ließ sich die Königin, deren Gemahl gestorben war, nebst ihren Beamten in die Verlosungsliste einzeichnen; das wirkte. Es lebten auch damals in Worms drei Brüder, riesenhafte Gestalten, welche das Schlosser- und Messerschmiedehandwerk eifrig betrieben. Da jeder Mann von dem traurigen Opfertode betroffen werden konnte, fertigten die drei Brüder einen Panzer an, der von außen ringsum mit scharfen Messern versehen war. Eines Tages fiel das Los auf die Königin. Sie weinte und jammerte so sehr, dass einer der drei Brüder sich erbarmte und sich bereit erklärte, sich für die Königin zu opfern. Doch fügte er die Bedingung bei, dass, wenn er durch Gottes Gnade am Leben bliebe, ihn die Königin zum Gemahl nehmen müsse. Gern willigte die Königin in diesen Vorschlag ein. Der Schlosser, angetan mit seinem Panzer, wurde dem Lindwurme vorgeworfen, welcher ihn sofort verschlang, aber die haarscharfen Messer im Innern zerschnitten den Leib des Ungetüms, sodass dieses verendete und der Schlosser lebend dem toten Körper entstieg. Großer Jubel herrschte in der Stadt, welche nun wieder aufatmen konnte. Der Jubel verstärkte sich, als die Königin ihr Wort einlöste und den Retter der Stadt zu ihrem Gemahl erkor. Hocherfreut war der jetzt zum König Gekrönte, und damit die seltsame Art, wie er die höchste Stufe erklommen, nie aus dem Gedächtnis schwinde und der Nachwelt dauernd erhalten bliebe, nannte er die Stadt, welche vorher Garmisa geheißen, zur Erinnerung an den Wurm Worms. Gleichzeitig befahl er, dass das Wappen der Stadt nunmehr zur Erinnerung an sein früher betriebenes Handwerk einen Schlüssel führen sollte. 'An dem Rathause', so schließt das, wie schon bemerkt, meinen Erzählungen zugrunde gelegte, 'Masseh Nissim' Buch, 'befand sich ein Bild, welches die drei Brüder mit dem Lindwurm und die Königin mit ihrer Krone darstellte.'
Miscellen. (Interessante Inschriften an der Wormser Synagoge). Die zitierten hebräischen Inschriften werden nachfolgend übersetzt: 
'Von der Sehnsucht nach dem Vorhof des Tempels errichtet, stehe das Zeugnis da in Joseph! Gottesfürchtige! Ihr schaut aufwärts, zum Felsen, zur Schrift, ihm vorn eingegraben. Den Inhalt beweist, ruft und bezeugt der Stein aus der Wand, der Balken aus dem Gehölz. Tief grub er bis zum Grunde und führte aufwärts das Gewölbe, einwärts führt ein gerader Weg und die Wand erhebt sich aus früheren Trümmern. Dieses alles auf Kosten seines Geldes, auf dass er im Schatten der Weisheit eine Hütte sich schaffe, unter dem ästigen Baum, in jener Höhe errichtet -, dort, wo bei'm Aufgang der Sonne das Licht ihm schön erglänzt, dass Schatten ihm werde in der Hütte, von der Haut dessen, über welchen die Freunde die Lose werfend würdig zur Teilung im Kreise sich setzen. Genießen wird er der Freuden Fülle, einem Gurte gleich und Tugend um seine Lenden, Treue um seine Hüften sich schließen. Gepriesen in Ewigkeit der, welcher das Flehen erhöret! Denn erfüllet hat er im Glauben das Herz seines Dieners, des Jakob, des Sohn Davids auf dass dieser mit Einsicht begabt, seinem erhabenen Namen einen Tempel errichte, und mit ihm seine Gattin Rachel, hochgeachtet zwischen den Glücklichen. Ihr Vermögen diente zur Ehre, zur Freude Gottes, ausschmückend verschönerten sie den Tempel, der im Ellul 794 seine Vollendung erreichte. Lieblicher, denn Opfer gefiel es dem Schöpfer, lieblicher als Söhne und Töchter empfingen sie ewigen Ruf, Denkmal und freudigen Glückwunsch. Gesegnet sei ihr Andenken, und wer dies liest, spreche Amen.'".  
Rechts oben: Äußere Ansicht der Synagoge zu Worms; unten: Innere Ansicht der Synagoge zu Worms.

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Rechts oben: Die Raschi-Kapelle mit Raschi-Stuhl; unten: Der alte jüdische Friedhof zu Worms. 

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Zur Geschichte der Juden von Worms und Speyer (Artikel von 1897)    

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 20. Mai 1897: "Zur Geschichte der Juden von Worms und Speyer. Von Samson Rotschild – Worms.   
Es ist das überaus große Verdienst des Baseler Professors, Dr. Heinrich Boos (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Boos), dass er das hiesige städtische Archiv, welches lange Jahr sehr im Argen gelegen, auf Veranlassung des Freiherrn v. Heyl zu Hernsheim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heyl_zu_Herrnsheim und http://www.alemannia-judaica.de/herrnsheim_synagoge.htm) in vortrefflicher Weise geordnet hat. Nachdem die Ordnung des Archivs im Wesentlichen 1883 vollendet war, bearbeitete Professor Boos die Wormser Geschichtsquellen in drei Bänden. Sein neuestes Werk, das vor kurzem erschienen ist, trägt den Titel: 'Geschichte der rheinischen Städtekultur von den Anfängen bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung von Worms.' Freiherr v. Heyl hat das großartig ausgestattete Werk in einer beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lassen. Es ist selbstverständlich, dass ein Verfasser, welcher die Geschichte von ehemals hervorragenden Städten wissenschaftlich zu behandeln hat, nicht gleichgültig an den alten Dokumenten der jüdischen Gemeinde vorbeigehen kann.
Ebenso selbstverständlich ist es, dass er hierbei sein Hauptaugenmerk der jüdischen Gemeinde von Worms und Speyer zuwendet. Dies hat der geniale Professor in so gründlicher und objektiver Weise getan, dass es sicher für viele Ihrer Leser von Interesse sein dürfte, Näheres zu erfahren.
Nachdem Boos das berühmte Privileg von Heinrich IV. (1056 -1106) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) für Worms bespricht, sagt er: 'Höchst bedeutsam ist es, dass als Nutznießer der Zollfreiheit die Juden in erster Linie von den übrigen Einwohnern von Worms genannt werden.' (Judaei et coeteri Vuormatienses). Nicht ohne Grund. Denn die Juden bildeten ein wichtiges, ja unentbehrliches Element der damaligen städtischen Bevölkerung. Sie vor Allen waren Kaufleute und werden als solche ebenfalls in dem Privileg Kaiser Ottos des I. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_I._(HRR)) für Magdeburg vom 9. Juli 965 den christlichen Kaufleuten vorangestellt. Im zehnten Jahrhundert galten Jude und Kaufmann als synonyme Begriffe.'
Nachdem Boos über das Verhältnis des jüdischen und christlichen Kaufmanns, über die soziale und geschäftliche Stellung der Juden spricht, fährt er wie folgt fort: 'In den rheinischen Städten finden wir die Juden schon sehr früh. Bereits für das Jahr 321 ist die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Köln bezeugt. Im Anfang des 11. Jahrhunderts besuchten die Juden von Mainz und Worms die Kölner Messe. Der christlichen Sage nach sollten Juden schon vor der Geburt des Stifters der christlichen Religion in Worms gewohnt und ihre Glaubensgenossen in Jerusalem von der Kreuzigung, von der sie glaubten, dass sie durch Juden stattfand, abgemahnt haben. Darum das Sprichwort: 'Wormser Juden, fromme Juden.' Einzelnen Inschriften auf dem jüdischen Friedhofe vor dem St. Andreastor in Worms wird ein hohes Alter zugeschrieben. Wie dem auch sei, jedenfalls beweist die im romanischen Stil monumental erbaute Synagoge, dass in Worms eine große Judengemeinde bestanden hat. Laut einer hebräischen Inschrift wurde die Synagoge oder die Judenschule 1060 vollendet; urkundlich wird sie erst seit 1290 erwähnt, auch stammt der jetzige Bau erst aus dem 13. Jahrhundert, der Frauenbau, der 1349 verbrannt sein soll, erst aus der gotischen Bauperiode und die Raschikapelle ist noch späteren Datums.
Wie es im Mittelalter allgemein üblich war, wohnten die Juden in einem Quartier, oder einer Gasse zusammen, und zwar in Worms in der Pfarrgemeinde St. Paul. Damit der Pfarrer in St. Ruprecht in seinen Einnahmen nicht verkürzt wurde, mussten die Juden wie die Christen Stolgebühren (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Stolgebühr) bezahlen. Schon im Jahr 1080 wird die Porta Judaeorum erwähnt, also darf man das Zusammenwohnen der Juden nicht als eine Folge des Judenmordes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)) des Jahres 1096 ansehen. Wir wissen ja, dass die Friesen, dass die Welschen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Welsche) etc. ebenfalls abgesondert in eigenen Quartieren wohnten. Bei den Juden war das Zusammenwohnen durch ihre religiöse Stellung bedingt. Ganz besonders lehrreich ist die Urkunde, die Bischof Rüdiger (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rüdiger_Huzmann) 1084 zu Gunsten der Juden ausstellte. Aus früheren Urkunden ist uns bekannt, dass außerhalb der ummauerten Altstadt Speyer ein Dorf lag, das zum Gerichtsbezirk der Stadt gehörte. Hier hatten sich, wie zu Straßburg und Köln, Kaufleute, darunter auch Juden, niedergelassen. Der genannte Bischof Rüdiger, der auch den Namen Huzmann führte, erklärte nun, dass er aus diesem Dorfe eine Stadt machen wolle, und dass er in dieser Vorstadt die Juden ansiedle. Damit sie aber nicht durch die Unverschämtheit des Pöbels gestört werden, will er sie mit einer Mauer umgeben! Das Land zu dieser Ansiedlung hat der Bischof teils              
Worms Israelit 20051897b.jpg (411273 Byte)durch Kauf, teils als Geschenk der Markgenossen erworben und schenkte es nun den Juden, unter der Bedingung, dass sie ihm jährlich einen Zins von 3 ½ Pfund Speyerer Münze zu Frommen des Domstiftes bezahlen sollen. Zugleich erhalten sie das Recht, innerhalb ihrer Ansiedelung in der Gegend zwischen da und dem Hafen, am Hafen und durch die Stadt frei Gold und Silber zu wechseln, zu kaufen und verkaufen, was sie wollen. Sie bekommen ferner aus dem Kirchengute einen Begräbnisplatz zum erblichen Besitz, das Recht, fremde Juden zollfrei bei sich zu beherbergen; ihr Archisynagogus (Synagogenvorsteher) erhält eine Gerichtsbarkeit, wie sie der Tribunus urbis, d.h. der Stadtschultheiß (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schultheiß), über die Bürger hat; in schwierigen Fällen sollen sie an den Bischof oder seinen Camerarius (= Kämmerer) appellieren. Wach- und Schutzdienste brauchen sie nur innerhalb ihres Bezirks zu tun, und die Verteidigung führen sie gemeinsam mit den Mannen des Bischofs. Sie dürfen auch christliche Ammen und Dienstboten mieten und unkoscheres Fleisch können sie den Christen verkaufen. Als höchsten Grad des Wohlwollens gewährt ihnen schließlich der Bischof das beste Recht, das die Juden in irgendeiner Stadt des Reiches besitzen. Diese neubegründete Judenstadt ist später unter dem Namen der Vorstadt Altspeyer, im Norden der Stadt, gelegen. Sie wurde 1632 von den Schweden verwüstet und dem Boden gleichgemacht.
Im Jahre 1090 baten die Speyerer Juden Judas, der Sohn des Calominus, David, der Sohn des Meschullam und Moses, der Sohn des Guthihel, für sich und ihre Angehörigen den Kaiser Heinrich IV. um Aufnahme in seinen Schutz. Sie gehörten einer berühmten Rabbinerfamilie an, die aus Lucca stammte. Bekanntlich geriet Kaiser Otto II. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_II._(HRR)), nach der Sarazenenschlacht 982 in große Lebensgefahr, aus welcher er durch Hilfe eines Juden Kalonymus, Sohn des Meschullam, aus Lucca gerettet wurde. Der Kaiser bewies ihm seine Dankbarkeit, indem er ihn nach Deutschland verpflanzte. Diese Familie war im Besitz eines Schutzbriefes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Judenschutz), den einst ein karolingischer König ausgestellt hatte. Otto oder seine Nachfolger haben dieses Privileg bestätigt und aufgrund dieser Bestätigung ließ dann Heinrich IV. am 19. Februar 1090 zu Speyer den obengenannten drei Juden eine Neuausfertigung ausstellen, und zwar in einer Fassung, die zu Gunsten des Bischofs Rüdiger von Speyer geändert worden war. Auch die Wormser Juden erhielten zur Zeit, als Salmann Judenbischof https://de.wikipedia.org/wiki/Judenbischof war, vom Kaiser Heinrich IV. einen Schutzbrief, der jedoch in manchen Punkten vom Speyerer Diplom abweicht. Im Speyerer Privileg werden dem Bischof die Rechte vindiziert, welche das Wormser dem Kaiser zuschreibt. Auch ist die Stellung der Speyerer Juden abhängiger und ungünstiger, als die der Wormser.
Die Wormser Juden gehören zur Kammer des Königs und stehen unter der ausschließlichen Gerichtsbarkeit desselben und ihres selbstgewählten Bischofs. Der König ist für die Juden in Worms die oberste Berufsinstanz. Alle Bußen fallen dem königlichen Fiskus zu. Niemand darf die Wormser Juden in ihrem Besitz, Immobilien und Mobilien, stören, wer dies doch tut, fällt in die Ungnade des Königs, und wer einem Juden etwas nimmt, muss das Doppelte ersetzen. Auch soll ihnen erlaubt sein, beim Bau ihrer Häuser die Stadtmauer zu benutzen. In der Tat sitzen noch heute die Häuser in der Judengasse auf der Stadtmauer, die gerade in dieser Gegend zwischen dem Martinstor und dem Judentor aus der romanischen Zeit stammt. Die Juden haben das Recht, in der ganzen Stadt Gold zu wechseln, außer vor dem Hause der Münzer oder da, wo die Münzer einen Geldwechsel errichtet haben. In ganz Deutschland dürfen sie freien Handel und Wandel haben, und kein Zoll darf von ihnen abverlangt werden, noch soll ihnen irgendjemand eine öffentliche oder private Leistung auferlegen. Auch ist ihnen erlaubt, den Christen Weine, Salben und Arzneien zu verkaufen. Unter diesen Weinen sind offenbar südländische zu verstehen, indem namentlich die schweren, edlen Weine aus Kleinasien und Griechenland beliebt waren. In ihren Häusern brauchen sie ohne ihre Einwilligung keine Einquartierung aufzunehmen. Niemand darf von ihnen ein Pferd zur Heerreise des Königs oder des Bischofs fordern oder eine königliche Heersteuer. Wenn eine gestohlene Sache bei ihnen gefunden wird, so soll der Jude seine Aussage, dass er sie gekauft habe, nach seinem Gesetz beschwören und dann gegen Zurückerstattung des Kaufpreises das gestohlene Gut dem Eigentümer zurückgeben. Niemand darf ihre Kinder gegen ihren Willen taufen oder er muss zur Strafe 12 Pfund Gold dem König bezahlen. Wer von den Juden freiwillig getauft zu werden wünscht, soll drei Tage warten, damit man erkenne, ob er es entweder um des christlichen Glaubens oder erlittener Unbill willen tut, dann aber soll er mit dem Glauben auch die Erbschaft seiner Väter abschwören. Ihre heidnischen Sklaven soll keiner unter dem Vorwande, sie im christlichen Glaube zu taufen, ihnen wegnehmen oder drei Pfund Silber zur Strafe dem König bezahlen und die Sklaven wieder zurückgeben. Der Sklave soll seinem jüdischen Herrn in allen Dingen gehorsam sein, ausgenommen, wenn es den christlichen Glauben angeht. Es soll ihnen erlaubt sein, christliche Mägde und Ammen zu haben und christliche Dienstboten zur Verrichtung von Arbeiten zu mieten, es sei denn, dass der Bischof oder ein Kleriker diesen an Sonn- und Feiertagen den Dienst verbietet. Sie dürfen aber keine christlichen Sklaven haben. Streitigkeiten    
Worms Israelit 20051897c.jpg (359955 Byte)zwischen Christen und Juden sollen nach dem versöhnlichen Rechte beider Teile entschieden werden, hingegen Streitigkeiten unter den Juden von ihren Glaubensgenossen nach jüdischem Rechte. Niemand darf einen Juden dem Gottesurteil (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gottesurteil) unterwerfen, wie das glühende Eisen, die heiße oder kalte Wasserprobe, oder ihn durch Prügel zum Geständnis zwingen, sondern der Jude schwört nach seinem Gesetze. Auch darf keiner durch Zeugen, es seien denn zugleich Juden und Christen überwiesen werden; ihm steht die Appellation an den König frei. Wer gegen diese Bestimmungen fehlt, zahlt dem Kaiser 3 Pfund Gold. Wer gegen einen Juden eine Verschwörung macht oder ihm Nachstellungen bereitet, so dass der Jude dabei umkommt, so sollen beide, der Verschwörer, wie der Totschläger, dem König 12 Pfund Gold bezahlen; wenn aber der Jude nur verwundet wird, ein Pfund Gold. Ist es jedoch ein Höriger, der ihn getötet oder verwundet hat, so büßt der Herr für diesen oder bestraft ihn. Kann der Täter die Strafe aus Armut nicht bezahlen, so soll er bestraft werden, wie jener, der den Juden vivus getötet hat, nämlich mit dem Verluste der Augen und der rechten Hand. Freilich, weder der König noch der Bischof konnten die Juden vor der fanatischen Wut der Kreuzfahrer und des christlichen Pöbels schützen. In der Not ließen sich viele Juden taufen. Damals, 1096, nahm sich Rabbi Moscheh, Sohn des Rabbi Jekuthiel (das ist Moses, Sohn des Guthihel in der Urkunde von 1090) seiner Glaubensgenossen in Speyer kräftig an. Durch seine Vermittelung kehrten die zwangsweise Getauften wieder zum Glauben ihrer Väter zurück.
So erwies sich der Schutzbrief der Juden doch noch wirksam. Die Judenverfolgung des Jahres 1096 erschütterte die ehrenvolle Stellung der Juden. In der Betätigung der Wormser Zollfreiheit durch Heinrich V. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_V._(HRR)) vom 16. Oktober 1112 stehen die Juden nicht mehr in erster, sondern in zweiter Linie und in der Bestätigung Friedrichs I. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_I._(HRR)) vom 3. Januar 1184 werden sie überhaupt nicht mehr erwähnt. Während bis zur Zeit Heinrichs V. die Juden den übrigen Kaufleuten vorangestellt waren, trat nun eine scharfe Scheidung zwischen Juden und Christen ein. Die zweite Judenverfolgung vom Jahre 1146 offenbarte von neuem ihre gefährdete Lage. Ja, sogar der allseits verehrte Bernhard von Clairvaux (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_von_Clairvaux) erregte den Unwillen des Volkes, als er gegen den fanatischen Mönch Radulf (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Radulf_der_Zisterzienser), der das Volk gegen die Juden aufhetzte, predigte. Es ist nicht allein religiöser Fanatismus, der das Volk wider die Juden aufbrachte, sondern es wirkten dazu noch mehr wirtschaftliche Motive. Man bedurfte nun, da die Städte im Laufe des 11. Jahrhunderts aufgeblüht waren, der merkantilen Vormundschaft der Juden nicht mehr, und ihre gefährliche Konkurrenz erregte den erbittertsten Hass. Wir können an der Hand der Urkunden Schritt für Schritt verfolgen, wie die Juden seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts rechtlich heruntergedrückt wurden. Nur noch beim König fanden sie Schutz, den sie freilich mit schwerem Gelde erkaufen mussten. Friedrich I. nahm sich ihrer an. Von Worms aus erließ er am 06. April 1157 ein Privileg, worin er den Schutzbrief Heinrichs IV. bestätigte. Während der Landfrieden Heinrichs IV. vom Jahre 1103, den für die Stellung der Juden maßgebenden Satz ausgesprochen hatte, dass alle Juden im Reiche unter dem Frieden des Königs stünden, betont Friedrich I. schärfer die Unterordnung der Juden unter die königliche Gewalt. Von da ab bewegt sich die Geschichte der Juden in absteigender Linie. Der fremde Kaufmann, welcher sich in einer Stadt niederlässt, verschmilzt mit den übrigen Einwohnern, der Jude hingegen sinkt zum königlichen Kammerknecht herab und sondert sich von der christlichen Bevölkerung. Friedrich II. nennt 1236 die Juden Kammerknechte. Universi Alemanniae servi camerae nostrae. Selbstverschuldung der Juden, Neid, Habgier und fanatischer Glaubenshass der Christen trugen dazu bei, die Lage der Juden immer gefährlicher zu machen.
Man warf den Juden den Mord von Christenkindern (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende) vor, und der von keinem Glaubenszweifel heimgesuchte Kaiser Friedrich II. beeilte sich, sie von dem Verdachte völlig freizusprechen, indem er ein wissenschaftliches Gutachten über die Anklage des rituellen Christenmordes abfassen und gestützt darauf ein reichsgerichtliches Urteil fällen ließ. Auch Papst Innozenz IV. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Innozenz_IV.)  erhob am 5. Juli 1247 dagegen seine Stimme. Es nützte den Juden wenig, denn bis zur heutigen Stunde herrscht noch in gewissen Gegenden dieser gotteslästerliche Wahn.'
So weit die Mitteilungen des Herrn Prof. Boos über die Geschichte der Juden, welche in anderen Kapiteln zuweilen noch gestreift wird. Das Werk selbst beschließt den 1. Band mit dem Kapitel: 'Der große rheinische Städtebund.' Wir freuen uns schon jetzt auf den folgenden II. Band, der jedenfalls am interessantesten und speziell für die jüdische Geschichte, dem ersten nicht nachstehen wird."
Vgl. https://www.historicum-estudies.net/etutorials/tutorium-quellenarbeit/beispielanalysen/privileg-barbarossas 
Zur Familie des Kalonymus: https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden.
 

   
Zur Geschichte der Juden in Worms - Buchbesprechung (1900)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. März 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms. Von Samson Rothschild, Worms.    
Der III. Band von 'Geschichte der rheinischen Städtekultur mit besonderer Berücksichtigung von Worms', herausgegeben von Prof. Boos (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Boos) in Basel ist erschienen. Er enthält für die Geschichte der Juden im Allgemeinen und der von Worms im Besondern schätzbares Material, von welchem ich einiges mitteilen möchte.
Der Verfasser bespricht die Leiden der Juden während der Kreuzzüge, wo des 'Reiches Kammerknechte' für den oft prekären Schutz dem König jährlich den goldenen Opferpfennig, eine Kopfsteuer, die z.B. in Nürnberg jährlich zwischen 3 und 4.000 Gulden betrugt, zahlen musste. Wie der König, so verstand es auch der Bischof und die          
Worms Israelit 05031900b.jpg (360067 Byte)Städte, die Juden zu schröpfen. In Worms besaßen die Juden 1315 Grundeigentum in den verschiedenen Pfarrgemeinden, aber bald nachher versuchte die Geistlichkeit, den Juden ihren Besitz zu entreißen und sie aus der Stadt zu verdrängen, was ihnen jedoch nicht gelang. In der Judengasse gab es damals sehr stattliche Häuser, die Zeugnisse von dem Reichtum der Wormser Judengemeinde ablegten. War doch diese im Stande, der Stadt im Jahre 1377 ein Darlehen von 20.000 Goldgulden zu machen, eine für jene Zeit enorme Summe. An der Spitze der Wormser Judengemeinde stand ein Rat, dessen Vorsitzender Judenbischof hieß. Ursprünglich wählte die Gemeinde ihren Vorsteher selbst, aber der Bischof machte ihnen das Recht streitig. Am 25. Juli 1312 kam es mit Hilfe des Wormser Rates zu einem Vergleich. 1. Der Vorstand der Judengemeinde besteht nun aus 12 Räten, die nach jüdischem Rechte richten sollen. Der Bischof ernennt einen der 12 Ratsherren zum Judenbischof auf Lebenszeit, das Amt selbst ging indess unter ihnen allmonatlich um. Jeder neue Judenbischof musste dem Bischof 20 Pd. Wormser Pfennige zahlen. 2. Der Judenrat ergänzte sich durch Kooptation. So oft einer der 12 Räte abgeht, wählten die übrigen 11 Judenräte innerhalb eines Vierteljahres einen anderen achtbaren Juden, diesen soll dann der Bischof bestätigen und der Bestätigte ihm den gewöhnlichen Judenratseid schwören. Für jedes neue Mitglied zahlt der Judenrat dem Bischof 60 Pfund Heller. 3. Versäumen die 11 Judenräte innerhalb eines Vierteljahres die Wahl, so setzt der Bischof von sich aus einen in den Judenrat, der dem Bischof 60 Pfund Heller zahlt. 4. Fällt die Besetzung einer Ratsstelle oder eines Judenbischofs in die Zeit einer Sedisvakanz, so tritt das Domkapitel in die Rechte des Bischofs. 5. Verlässt einer der Judenräte die Stadt, so soll ihm sein Ratsamt drei Jahre lang offenstehen; erst nach Ablauf dieser drei Jahre wird das Ratsamt ledig. 6) Nur bei der Wahl eines Ratsmannes soll die Stimmenmehrheit entscheiden. Diese Verfügung, von Bischof Reinhart I. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_I._von_Sickingen) bestätigt, wird von Bischof Johannes von Dalberg 1488 wieder geändert.
Während die Juden noch im 14. Jahrhundert Bürger der Stadtsein konnten, ist dies im 15. Jahrhundert nicht mehr der Fall. Sie wurden nur noch geduldet. Ihnen wurde nur noch ein Niederlassungsrecht (Gedinge) auf bestimmte Zeit gewährt. Bezeichnend ist der Eid, den zu schwören ihnen der Rest auferlegte.
Im 15. Jahrhundert vertrieben die Städte Köln, Augsburg, Ulm, Nürnberg die Juden, in Worms hätte man es auch getan, wenn der Kaiser sie nicht geschützt hätte, aber dafür drangsalierte man die Juden auf jede mögliche Weise. Am 1. November 1584 erlässt der Rat eine neue Judenordnung, welche 25 Paragraphen enthält.
1615 werden die Juden von Worms vom Pöbel misshandelt. Sie wenden sich an den Kaiser, der sich der Sache annimmt, und an den Pfalzgrafen Friedrich V. (Winterkönig, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_V._(Pfalz)), der in einem Schreiben vom 14. April 1615 seinen scharfen Tadel über die Exzesse ausspricht. Dessen ungeachtet werden sie aus der Stadt vertrieben mit Weib und Kindern, ohne Schonung der Kranken und Kindbetterinnen; auch hatten die Bürger die Synagoge zerstört und die Grabsteine ausgerissen, was einen scharfen Verweis des Kaisers zur Folge hatte. Im Jahr 1699 erwarben die Juden durch Vertrag mit der damals bedrängten Stadt die Aufhebung ihrer Leibeigenschaft, in entschiedenstem Widerspruch zu den Vorschlägen Seidenbenders, der am 15. Mai 1690 die Frage aufgeworfen hatte, ob man nicht bei der Wiederaufrichtung des Gemeinwesens die Juden völlig ausschließen sollte, und der Wormser evangelischen Geistlichkeit, die verlangte, dass der Magistrat die Juden zum wenigsten zum Kirchenbesuch und zur Anhörung göttlichen Wortes (nicht zum christlichen Glauben selbst) anzutreiben per vim sive disciplinam externam verbunden sei.
Über die Anzahl der Juden in den mittelalterlichen Städten herrschen nach Boos übertriebene Vorstellungen. So besitzen wir für Nürnberg einige authentische Angaben. Im Jahre 1338 zählte Nürnberg 212 Juden, und die Zählung vom Jahre 1449 ergab 150 Köpfe.
In Frankfurt betrug die Zahl der Juden: 1241 über 200 Personen, 1431 über 102 Personen, 1473 über 131 Personen, 1703 über 2.364 Personen, 1817 über 4.309 Personen, 1880 über 13.856 Personen. 
In Worms war die Gemeinde im Mittelalter sehr groß. 1491 erließ der Kaiser ein Ausschreiben an die Städte des Reichs, wonach die Juden folgendermaßen geschätzt wurden:
Frankfurt auf 600 Gulden, Worms auf 400 Gulden, Friedberg auf 35 Gulden, Wetzlar auf 30 Gulden, Gelnhausen auf 80 Gulden,     
Worms Israelit 05031900c.jpg (120054 Byte)die Städte im Elsass auf 100 Gulden, Schweinfurt auf 100 Gulden.
Im Mai 1377 gewährte die Wormser Judengemeinde dem Rat der Stadt ein Darlehen. Der Brief ist von 36 Männern unterschrieben, die jedenfalls der Wormser Gemeinde angehörten. In der Aufzeichnung über die Steuerleistungen der Wormser Juden werden 35 Juden namentlich aufgeführt, darunter der Rabbi, der Schulklepper und der Vorsänger, der Bader gibt nichts; ferner sind genannt ein Arzt, ein Bartscherer, ein Metzger, dazu kommen noch 30 Studenten.
Über den Ursprung der Wormser Juden meint Boos, dass die rheinischen Juden aus Italien und Frankreich stammen. Diese Judengemeinden bildeten eine engverbundene Gemeinschaft, die unter sich regen Verkehr unterhielten. Kölner Juden finden wir in Frankfurt und Worms. Wormser Juden in den verschiedenen Rheinstädten. Die Juden wanderten häufig. In dem Wormser Verzeichnis aus dem 15. Jahrhundert wird ein Jakob von Ulm genannt, ferner ein Selickmann von Ingelheim, ein Gottschalck von Walch und ein Lesser Walch. Unter Walch sind Juden romanischer Herkunft zu verstehen. Laut dem Statut von 1312 durfte kein Walch in den Judenrat gewählt werden.
Boos bespricht dann nach den frommen Sinn der jüdischen Gemeinde von Worms, erzählt von Raschi (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) und Rabbi von Rotenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und schließt sein Kapitel 'die Juden' mit den Worten: 'Noch manch berühmter Name wäre zu nennen. Den Juden ist die Erinnerung an sie ein süßer Trost für die vielen Leiden, die sie die Jahrhunderte hindurch zu dulden hatten.' .   

   
Zur Geschichte der Juden in Worms (I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen, II. Wormser Flüchtlinge, a) Meir Eisenstadt, Artikel von 1900)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18. Januar 1900:  "
Zur Geschichte der Juden in Worms
(I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen……….)
Zur Geschichte der Juden in Worms
I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen (Fortsetzung,)
Aus der Zeitliteratur teile ich ein von einem Augenzeugen der Zerstörung
verfasstes, höchst seltenes Klagelied mit, das Cat. Bodl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library No. 3677 aufgeführt ist und
folgendermaßen lautet:
(Jiddisch in hebräischer Schrift) 
          
Worms Israelit 18011900b.jpg (284270 Byte) Fortsetzung des jiddischen Klageliedes mit Anmerkungen.   
Worms Israelit 18011900c.jpg (255144 Byte)  ...  Der Verfasser des Klagelieds, Sekle (wohl die Koseform von Jizchak, Anmerkung S.R.) war einer von den Wormser Flüchtlingen, die anno 1689 nach allen Windrichtungen sich zerstreuten. Nachfolgende Zusammenstellung enthält die Namen und Lebensumstände derjenigen Flüchtlinge, die in der jüdischen Literatur als solche verzeichnet sind.
a. Meir Eisenstadt. Meir b.(en) Isack Eisenstadt (Maharam E"sch) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_Eisenstadt, geb. 1660, gest. 7. Juni 1744, war Rabbiner in Schidlow (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Szydłowiec bzw. https://en.wikipedia.org/wiki/Szydłowiec) und wurde von da an das Lehrhaus des Samson Wertheimer (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Wertheimer) nach Worms berufen. Allein die Kriegswirren zwangen ihn anno 1689 von da an zu flüchten. Samson Wertheimer, dessen Freundschaft und Wohltätigkeitssinn so manchem jüdischen Gelehrten zu statten kam, hatte die Berufung des Rabbi Meir nach Worms veranlasst; er sorgte auch jetzt wieder für seinen gelehrten Schützling, dessen Lebensunterhalt er zweifellos aus eigenen Mitteln bestritt und dem er später das Rabbinat in Prossnitz (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Prostějov) verschaffte, wo unser Rabbi Meier von 1702 bis 1712 verweilte! Dort schrieb er seine Novellen zu Masechat sewichim, von dort rühren auch viele auch viele RGA her, die im Panim Me'irot 1. Teil veröffentlicht wurden. In lebhaftem Briefwechsel stand er mit dem bekannten Chacham Zebi (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Zwi_Hirsch_Aschkenasi), dessen Tochter an den Sohn des Meier Eisenstadt, namens Isack, der den Rabbinatsstuhl in Biala einnahm, verheiratet war. Von Prossnitz kehrte unser R.(abbi) Meier wieder nach seinem alten Rabbinatssitz Schidlow zurück , wo er eher für sein eigenes Studium und den Unterrichtder Schüler die nötige Zeit zu finden hoffte. Sein Gönner Samson Wertheimer veranlasste später seine Berufung nach Eisenstadt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenstadt), wo er ums Jahr 1717 die Rabbinerstelle übernahm und bis an sein Lebensende verweilte. Dieser Aufenthalt erlitt a.(nno) 1723 eine mehrmonatige Unterbrechung als R. Mier wegen einer Denunziation nach Polen zu flüchten gezwungen war (vgl. (Hebräisch) Abschrift Schemini). Näheres über R. Meir Eisenstadt und seine Wirksamkeit s. Orient 1847, S. 381 u. 444, vgl. auch Kaufmann Samson Wertheimer, S. 64 ff.
(Fortsetzung folgt)

Zur Zerstörung von Worms durch die Franzosen im Jahr 1689: https://www.worms.de/de/kultur/stadtgeschichte/wussten-sie-es/liste/2014-02_Franzosen_am_Rhein.php  https://www.dilibri.de/rlb/content/titleinfo/782874."    

 
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, b) Isack Blin, Artikel von 1900)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 12. April 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge; (Fortsetzung.)
b. Isack Blin. Isack Blin, Sohn des Elieser Sussmann, war zur Zeit der Zerstörung von Worms einer der dortigen Vorsteher und flüchtete von da nach Frankfurt, wo er Freitag, 2. Nissan (18. März) 1695 ins Jenseits einging. Seine Grabschrift lautet: (Hebräisch)
Sein Tod wird auch im Wormser Memorbuch (ed. Berliner, S. 22, Zeile 6 von unten gemeldet, wo unmittelbar auch der Heimgang seiner Frau Fromet betrauert wird, die zehn Jahre nach ihrem Gatten aus dem Leben schied. Sie war die Tochter des Wormser Talmudlehrers Mosche Öttingen und starb in Worms am Dienstag, 1. Tamus (23. Juni) 1705.
Die Familie Blin, die heute noch in Worms vertreten ist, führt ihren Stammbaum auf mehrere Jahrhunderte zurück - Anmerkung 1. Einer der alten Gelehrten daselbst war Elia ben Mose Blin, von dem die Bodleiana in Oxford (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library)  (Cod. 2184) Rechtsbescheide besitzt und der als Lehrer und Verwandter des Herz Treves in Frankfurt, des Verfassers eines kabbalistischen Kommentars zum Gebetbuch, bekannt ist (cf. Horowitz, Frankfurter Rabbinen I, 23; Mate levi S. 3 N. 16). Nach Zunz (zur Geschichte und Literatur S. 107) war er früher in Bingen wohnhaft. Er starb in Worms am Sabbat, 18. Adar II (28. März) 1587, seine Frau Blümlin starb daselbst in der Nacht vom 5./6. Aw (14./15. Juli) 1630. Von seinen Kindern starb Elieser Sussmann vor dem Vater anno 1551, sein Sohn Aron - Anmerkung 2 - starb 1622, seine Tochter Fromet, die 1631 starb, war die Gattin des gelehrten Vorstehers R. Feibelmann - Anmerkung 3 -, der 1641 in Nikolsburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mikulov) zu seinen Vätern einging; des Letztern Sohn, Rabbiner Aron, war einer der Schulrektoren in Worms, kam dann als Rabbiner nach Metz und starb daselbst an der Pest 1635 (vgl. Memorbuch, S. 12, wo seine Leistungen als Vorbeter rühmend hervorgehoben werden). – Ein Sohn des in der Überschrift genannten Isack Blin namens Elia, war Rabbinatsassessor in Worms und starb hochbetagt am Freitag, 16. Adar I (16. Februar)1680. Ein 
 
 
Anmerkung 1) Cod. 672 Oxford (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library) nennt einen Mose ben Elia Blin, der vor 1465 in Worms lebte und wahrscheinlich Urgroßvater des hier genannten Elia ben Mose war.
Anmerkung 2) Eine Tochter dieses Aron, namens Sorlen, war an den Gelehrten Rabbi Abraham Aberle ben Mose Landau verheiratet, der 1666 in Worms an der Pest starb (Memorbuch S. 28).
Anmerkung 3) Eine Anfrage von ihm findet in (Hebräisch) Nr. 118.   
Worms Israelit 12041900b.jpg (67118 Byte)Sohn dieses Elia namens Josua Falk, war lange Zeit Gemeindekassier in Worms; das Memorbuch rühmt u. a. seine Gastfreundschaft, er starb am Mittwoch, 15. Siwan (31. Mai) 1730.
Die Familie Blin war auch im Elsass sesshaft. Mose Blien aus Hönheim wird um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Armeelieferant erwähnt - Anmerkung 4; er ist jedenfalls identisch mit Mose Blin in Bischheim, der von Sabbatai Kohen in der Einleitung zu seinem Sefer Minchat Cohen Fürth 1741) als Mäzen gepriesen wird.
Auch sonst findet sich der Name Blin in der jüdischen Literatur, so Elieser ben Jakob Blin als Verfasser von Awronot (Cat. Bodl. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library  S. 958); ein Rafael Blin aus Nizza und Simson Blin in Parma werden von Gadalja ibn Jachja genannt (ibid. S. 2877, cf. Gross, Gallia judaica p. 384).
(Fortsetzung folgt)."           .      

   
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. c) Elieser Liberman; Artikel von 1900)    

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 9. Juli 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge). (Fortsetzung)
c. Elieser Libermann. Elieser Libermann, der 1689 von Worms nach Amsterdam flüchtete, gehörte der Familie Mansbach an. Dieser Name, der heute noch in jüdischen Kreisen vertreten ist, scheint mir eher auf das talmudische MaNZPaCH zurückzuführen sein, als auf die Stadt Ansbach - Anmerkung 1. Der erste Träger dieses Namens ist Naftali Herz, Sohn des Gerschon. Eine talmudische Rechtsfrage zwischen ihm und Elia Blin (vgl. Artikel oben) behandelt Cod. 2184 der Bodleiana (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library). Der Sohn des Naftali Herz hieß Jiftach Josef und ist unter dem Namen Juspa Schamasch bekannt. Er studierte 1620 in Fulda unter Rabbi Pinchas Horwitz - Anmerkung 2 - und kam 1623 nach Worms, wo er 30 Jahre als Synagogendiener, Beglaubter und Thoraschreiber fungierte, bis er am Sabbat 13. Schewan (5. Februar) 1678 - Anmerkung 3 - aus dem Leben schied. Seine Frau Rebecka Peierchen, Tochter des gelehrten Rabbi Jechiel, starb 1688. Aus der Ehe gingen 3 Söhne und 2 Töchter hervor. Der älteste Sohn, Jacob, starb schon anno 1666 (Memorbuch S. 28), der jüngere, namens Samuel, starb 1699 (Memorbuch S. 21); der jüngste ist der in der Überschrift genannte Elieser Libermann. Von den Töchtern war die eine, namens Mindele, an Samuel Sofer in Worms verheiratet, von dem als Wormser Flüchtling weiter unten die Rede sein wird. Die andere Tochter, Tamar, war an Löb Batenheim verheiratet und starb 1666. Juspa Schamasch ist Verfasser des noch ungedruckten Sefer Lekitei Josef, eines Kommentars zum Gebetbuch; er schrieb ferner das Sefer Musar und das Maasei Nassim, die von seinem Sohne Elieser Libermann in Amsterdam dem Druck übergeben wurden; endlich stellte er auch die Wormser Minhagim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) zusammen. (Cod. Oxford) – Elieser Libermann fand die Werke seines Vaters handschriftlich vor und ließ sie in Amsterdam - Anmerkung 4 - drucken (1690 ff.). Er selbst verfasste gemeinschaftlich mit Abraham Margaliot eine Tefila Lekibuz Galiotenu (Amsterdam 1705). Elieser Libermann, der 1724 in Amsterdam starb, hinterließ 3 Töchter und 2 Söhne, der das oben S. 12 mitgeteilte Klagelied auf die Zerstörung von Worms verfasste und wahrscheinlich gemeinsam mit seinem Vater nach Amsterdam geflüchtet war. Isack Sekle (vgl. Artikel) erhielt seine Ausbildung an der Jeschiba in Metz. Das Bet-hamidrasch (Lehrhaus) Ez Chaiim in Amsterdam (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliothek_Ets_Haim)  besitzt ein von dessen Hand geschriebenes Buch, das Erklärungen zum Pentateuch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) und am Schluss die Schilderung verschiedener Zeitereignisse, sowie endlich eigene genealogische Aufzeichnungen enthält, die jedoch nur geringen geschichtlichen Wert haben - Anmerkung 5
(Fortsetzung folgt.) 
Anmerkung 1) Vgl. Hock, Die Familien Prags, S. 373 n. Der Ursprung der Familie weist jedenfalls auf Worms hin. Träger des Namens finden sich in Amsterdam und Prag (?); ein Rabbiner Jakob Mansbach in Kreuznach wird in RGA Schawot Jaakow 11 Nr. 161 genannt; er gehörte, wie alle Wormser Mansbach, dem Levitenstamm an. Es gibt übrigens auch Mansbach, die ihren Ursprung aus einem in Kurhessen liegenden Dörfchen gleichen Namens herleiten.
Anmerkung 2) Derselbe war zuerst Appellant in Prag, dann Rabbiner in Fulda; von Fulda kam er als Rabbinatspräses nach Prag, wo er 1653 aus dem Leben schied. Vgl. Sch"T chassat Jair  Nr. 123, Lieben, Galed Nr. 138. Seine Frau Lipet war die Tochter des Bezaled und Enkelin des hohen Rabbi Löw (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Judah_Löw); die zweite Frau Jutel, Tochter des Samuel Esriel, starb 1640 in Prag (dass. S. 91), ein anderer Sohn, David, war Rabbinatsassessor in Wien (vgl. Buber Anaschei Schem Nr. 414).
Anmerkung 3) Vgl. Lewysohn, Epitaphien, S. 69; Memorbuch S. 28. (Seligmann) Bär in Awodat Jisrael Einleitung VI hat die unrichtige Jahreszahl T"M.
Anmerkung 4) Ein Abraham ben Salomon Levi, aus der Familie Mansbach, war ebenfalls Buchdrucker in Amsterdam; cf. Cat. Bodl. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library) Nr. 7740.
Anmerkung 5) Eine Abschrift derselben verdanke ich der Güte des Herrn Sigmund Seeligmann in Amsterdam."         

  
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, d) Samuel Sofer, e) Manlin See; Artikel von 1900)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 22. Oktober 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms II. Wormser Flüchtlinge (Fortsetzung)
d. Samuel Sofer. Samuel (Sanfel) Sofer, Sohn des Aron Benjamin (Wolf) war Gemeindeschreiber und Beglaubigter in Worms. Er flüchtete nach Hamburg, wo er 1693 ein Rätsel über den Tabak (Hebräisch) schrieb, wie er auch ein Jahr vorher ein Lied drucken ließ, das er der Chewrat Kadischah... in Worms bei Übergabe einer neuen Thorarolle anno 1677 gewidmet hatte - Anmerkung 1. Er schrieb auch ein Rätsel über die Brille - Anmerkung 2. 1697 hielt er sich in Hanau, wo er im Hause des Enkels des Rabbi Elia Loanz (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans) aus dem Gräberbuche seines Schwiegervaters Juspa Schames (s.o. S. 45) den Eintrag über Rabbi Elia (Loanz) kopierte - Anmerkung 3. Nach der
Restaurierung von Worms kehrte er dahin zurück - Anmerkung 4 - und starb dort am 20. Tischri (20. Oktober) 1712. Seine Frau Mindele, die Tochter des ebengenannten Juspa Schames, starb in Worms am 20. Siwan (23. Juni) 1723) - Anmerkung 5. Das Wormser Memorbuch S. 24 nennt einen Sohn, Kalman, der vor dem Vater am 7. Ijar (13. Mai) 1712 starb; ein Sohn Wolf war Rabbinatsassessor in Worms, wirkte dort in dem von Löb Sinzheim gestifteten Lehrhause und starb am 27. Tischri (7. Oktober) 1760 (Memorbuch S. 47); eine Tochter Chajele starb 1712 (das S. 24). Die Witwe des genannten Kaufmann heiratete in 2. Ehe den Vorbeter Mordechai in Mainz; eine Tochter aus 1. Ehe, ?itle, starb als Braut 1734 in Mainz (Mainzer Memorbuch, No. 558, wo sich der Zusatz findet, dass die Verstorbene (Hebräisch) gewesen ist.
e. Manlin See. Menachem (Manlin) See - Anmerkung 6 - war vor der Katastrophe Vorbeter in Worms und flüchtete mit vielen Genossen nach Metz (s.o. S. 4), wo er wahrscheinlich geboren war, da dort der Name See sich häufig findet.7) Auch in der neuen Heimat wirkte er als Vorbeter. Als im Jahre 1698 zwei Sendboten aus Worms abgingen, um zum Wiederaufbau von Synagoge, Gemeinde- und Privathäusern Gelder zu sammeln, kamen sie auch nach Metz, wo in ihr Kollektenbuch folgender Eintrag gemacht wurde:
(Hebräisch)
Manlin See starb in Metz vor 1709. Seine Söhne Isack und Simon Koblenz sind im dortigen Gemeindebuch verzeichnet (Revue XIX, 128 ff.)
(Fortsetzung folgt.)
Anmerkung 1). Cf. Wolf bibl. hebr. I, 2061. Cat. Bodl. No. 6998, Cat. Rosenthal S. 1172, No. 15 II, der Anfang des Liedes lautet (Hebräisch)
Anmerkung 2) Kaufmann, Jair Chajim Bachrach, S. 76n
Anmerkung 3) Ebendas,
Anmerkung 4) Von ihm rührt der Eintrag im sog. Grünen Buch fol. 225 von (Hebräisch) 1689, der eine Spezifikation des der jüd. Gemeinde gehörigen Silberschatzes enthält; cf. Kaufmann das S. 74. Auch bewahrt das Wormser israelitische Gemeindearchiv einen Brief mit einer Namensunterschrift d. d. 4. Siwan 1202, in welchem er aus Auftrag des Vorstandes in Worms nach Heidelberg an die isr.(aelitischen) Vorsteher der Pfalz in Forderungssache sich wendet, vgl. Löwenstein, Kurpfalz S. 102 n.
Anmerkung 5) Vgl. Wormser Memorbuch S. 34, Z.(eile) 8 v.(on) u.(nten), wo (Hebräisch) anstatt (Hebräisch) zu lesen ist.
Anmerkung 6) Die Deutung des vielfach umstrittenen Familiennamens (Hebräisch) die Kaufmann in Revue XX, S. 309, gibt, wird neuerdings von Freudenthal (Aus der Heimat Mendelssohns, S. 299) wieder angefochten.
Anmerkung 7) Cf. Revue XX, 310.            

    
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, Schluss; f) Rafael Durlach, g) Samuel Schwob, h) Jehuda Menz; Artikel von 1900)    

Worms Israelit 31121900v.jpg (223601 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. Dezember 1900:  "Zur Geschichte der Juden in Worms. II. Wormser Flüchtlinge (Schluss).   
f. Rafael Durlach Rafael b(en) Baruch Durlach, der in Worms das Amt des Rabbinatsassessors bekleidete, flüchtete von da nach Mainz, wo er als Vereinsrabbiner bei der dortigen Chewra Kaddischa (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chewra_Kadischa) Anstellung fand. Das Protokollbuch dieses Vereins - Anmerkung 1 - enthält folgenden Eintrag: (Hebräisches Zitat)
Der hier geschilderte Vorgang bezieht sich auf die Zeit, als Mainz am Anfang des Jahres 1689 von den Franzosen belagert wurde. Der Friedhof, zu dem während der Belagerung der Zugang unmöglich war, wurde erst nach oben genanntem Tage – 10. Januar 1690 – wieder freigegeben. Die bis dahin im Synagogenhof bestatteten Leichen wurden ausgegraben und auf den Friedhof transferiert und der 1. Schebat (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schevat) wird heute noch von der Beerdigungsbruderschaft als Freudentag gefeiert.
Rafael Durlach kehrte später wieder nach Worms zurück und starb 1. Tischri (Neujahr) 5475 - 10. September 1714. – Am folgenden Tage wurde er mit großen Ehren beerdigt. Sein Sohn Jakob Elieser, gewöhnlich Rabbi Leser Durlach genannt, war nahezu 50 Jahre Rabbinatsassessor in Worm, wo er 7./8. Adar I. (14./15. Februar) 1777 starb - Anmerkung 3. Der Sohn des Dajan Leser, namens Maier Durlach, war Herausgeber von Elia Loanz Koheletkommentar (Berlin 1775) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kohelet) - Anmerkung 4.  
g. Samuel Schwob Samuel Schwob, der in Pressburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bratislava) wohnte, nennt sich in einem Briefe an den Vorstand von Worms, d. d. 26. Ijar - 10. Mai 1706 Migula Wirmisa. In diesem Briefe, dessen Original im jüdischen Gemeindearchiv von Worms sich befindet, bittet der Genannte um die Stättigkeit für die Dienerin Krönchen, die Tochter Josefs, cf. Kaufmann, Jair Chaim Bacharach, S. 76 n.
h) Jehuda Löb Menz. Jehuda Löb ben Mose Josef Menz, Korrektur des Nachalat Schewaah ed. Frankfurt 1693, fügt seinem Namen den Zusatz Migula Wirmisa bei."
Anmerkung 1) Durch die dankenswerte Güte des Herrn Rabbiner Dr. Bondi wurde mir ein Einblick in des Buch gestattet
Anmerkung 2) Wormser Memorbuch ed. Berliner S. 25, Kobez al Jad 1893 S. 20. 
Anmerkung 3) Wormser Memorbuch ibid. S. 51
Anmerkung 4)
Vgl. Löwenstein, Kurpfalz S. 168 u. 2."            

       
Hinweis auf einen publizierten Vortrag von Benas Levy über die Juden in Worms (1914)   

vgl. https://www.amazon.de/Die-Juden-Worms-Geschichte-Literatur/dp/1332555934  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 30. Oktober 1914: "Die Juden in Worms. Ein Vortrag, gehalten von Benas Lev, Berlin. Verlag von M. Poppelbauer, Berlin C 2 1914. Anmutige populäre Schilderung, die mit einer Beschreibung der Synagoge anhebt und im Verlaufe die mannigfachen, mitunter nicht traurigen Schicksale der Wormser Gemeinde erzählt. Die historischen Vorgänge werden schlicht berichtet, interessante Stellen aus Historiken und Urkunden mitgeteilt, auch Legenden werden berücksichtigt. Gelegentlich werden die Abgaben einzelner Gemeindemitglieder genau verzeichnet. Bestimmte Quellen werden im Allgemeinen nicht genannt, aber das Ganze macht, wenn ich auch keine Gelegenheit hatte, die Angaben nachzuprüfen, den Eindruck eines guten, aus zuverlässigen Hilfsmitteln herbeigeholten Buches. Die Darstellung ist einfach und gut lesbar. L.G."       

 
Vorstellung des Buches von Samson Rothschild über "Die Abgaben und die Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563-1854" (1926)      

Artikel in der "Jüdisch-liberalen Zeitung" vom 29. Januar 1926: "S.(amson) Rotschild: Die Abgaben und die Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563 – 1854. Ein Beitrag zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Worms. Mit zwei Briefen des Stadtarchivars Prof. Weckerling Broschiert, 43 S. Der verdienstvolle Erforscher der Geschichte der Wormser Juden hat seinen bisherigen Veröffentlichungen (aus Vergangenheit und Gegenwart der israelitischen Gemeinde Worms; Beamte der Wormser jüdischen Gemeinde; Emanzipationsbestrebungen der hessischen jüdischen Großgemeinden im vorigen Jahrhundert; Raschi) diese neue wertvolle Werkchen angereiht, das als Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte einer deutschen Gemeinde das ganze Judenelend der Judengemeinden in Deutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert widerspiegelt und als Baustein für die Städtegeschichte der deutschen Juden nach dem Dreißigjährigen Kriege bleibende Bedeutung beansprucht. Der Stadtarchivar von Worms gibt dem Büchlein das Begleitwort auf den Weg, dass der Verfasser es vorzüglich verstanden habe, 'die Ursachen klar darzustellen, infolge der die Judengemeinde Worms schon im Mittelalter finanziell sehr schlecht gestellt war und dann besonders im 17. und 18. Jahrhundert von so einer außerordentlichen Schuldenlast bedrückt wurde.'
Annähernd ein halbes hundert Urkunden aus einem Zeitraum von etwa dreihundert Jahren liegen der überaus fleißigen und gewissenhaften Arbeit zugrunde. Sie zeigen ein düsteres Bild von Erpressungen und Verzweiflung. Unglaublich erscheinen die zahllosen Arten der erzwungenen Abgaben, die als Geleitgeld und Schutzgeld an Magistrat und Kirche, als Kriegssteuern, Kronsteuern, Reichspfennig u.s.f. (= und so fort) an die kaiserlichen Hofkammern zu zahlen waren. Am schlimmsten lastete der Druck des Magistrats zu Worms. In einer Eingabe an den Vertreter des Kaisers gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, schüttet die Wormser Judenschaft ihr bedrücktes Herz in rührender Klage aus: 'So wenden wir uns an Eure Exzellenz in aller Demut mit der Bitte, dass dieselbe vor allem zu erwägen geruhe, in welch unglücklicher Lage jetzt die Gesamtheit sowohl wie jeder einzelne von uns elendiglich schmachtet, indem uns der Ackerbau und anständiger Handel nicht gestattet, sind wir durch andere regelmäßig Abgaben an den Bischof von Worms sowohl als an die Erben von Dalberg und ebenso durch jährlich zu zahlende Abgaben von den Häusern bedrückt worden, wir unser Hab und Gut aber durch den täglich mehr sinkenden Kredit verlieren und bei dieser Lage der Dinge uns nicht anderes von der Zukunft versprechen können, als dass wir unsere Häuser, die wir seit 1.700 (!) Jahren in der genannten Stadt inne gehabt haben, verlassen und mit dem leeren Ranzen in die Verbannung gehen müssen. (Seite 5).
Bis über die Mitte des 19. Jahrhundert, 1851, seufzten die Wormser Juden unter der angehäuften, vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg, die Verwüstung der Pfalz durch Ludwig XIV. und den Spanischen Erbfolgekrieg unerträglich angeschwollenen Schuldenlast, von der sie schließlich durch ein gütliches Übereinkommen unter großen persönlichen Opfern hochherziger Gemeindemitglieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts erst sich befreien konnten.
Allen für Geschichte der deutschen Juden interessierten Kreisen empfehlen wir das auch äußerst geschmackvoll ausgestattete Büchlein aufs Wärmste. Vom Verfasser aber erhoffen wir noch manchen gleich wertvollen Beitrag zur Geschichte der Wormser Juden. Rabbiner Dr. Seligmann, Frankfurt a. M.".      

 
Gedenkfeier: 200 Jahre Zerstörung der Stadt durch die Franzosen im Jahr 1689 (1889)    

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 12. Juni 1889: "Worms, 31. Mai. In würdig-ernster Weise wurde heute hier der zweihundertjährige Gedenktag der Zerstörung der Stadt Worms durch die Franzosen (31. Mai 1689) gefeiert. Die Feier war eine rein kirchliche. Nachdem gestern abend (8 – 9 Uhr) das festliche Geläute von sämtlichen Kirchen der Stadt den Bewohnern den wichtigen Gedenktag ins Gedächtnis gerufen hatte, folgte heute Nachmittag in den Kirchen aller Konfessionen (Protestanten, Katholiken und Israeliten) Festgottesdienst, an welchem sich die Behörden und die Schulen in corpore beteiligten."        

   
Zur Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde (1911)      

Worms Israelit 14121911.jpg (73304 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 14. Dezember 1911:  Abbildung 1: Alter Friedhof der Wormser jüdischen Gemeinde.        
Worms Israelit 14121911b.jpg (557604 Byte)Abbildung 2: Kanne aus 1710 des Wormser Männerwohltätigkeitsvereins
Abbildung 3: Becher aus 1609 des Wormser Männerwohltätigkeitsvereins 
Abbildung 4: Portal und Versammlungshalle des neuen Friedhofs dem Wormser jüd. Gemeinde 

Zur Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde (mit vier Bildern)
In der Gedenkschrift zur Eröffnung des neuen Friedhofs in Worms macht Herr Max Levy (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Lewy) in einer erschöpfenden Abhandlung über die Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde u. a. auch folgende Angaben: Juden sollen sich schon in vorchristlicher Zeit in Worms niedergelassen haben. So wird sowohl in der Chronik eines Augustinermönchs aus dem bei Worms gelegenen Kloster Kirchgarten, als auch in dem Mase Nissim-Buche des Juspa Schammes erzählt. Auch Josef Friedrich Schannat, der Gerichtsschreiber des Bistums Worms, reiht die Juden den ältesten Bewohnern von Worms an. Johann Friedrich Moritz führt ebenfalls viele angebliche Beweisstücke für das in die vorchristliche Alter der Wormser jüdischen Ansiedelung an, ebenso eine handschriftliche Chronik aus dem 18. Jahrhundert in der Wormser Paulusbibliothek.
Aus dem elften Jahrhundert befinden sich noch manche Grabsteine auf dem Friedhofe. Für Größe und Ansehen der Wormser jüdischen Gemeinde damaliger Zeit spricht auch die Tatsache, dass in ihr die erste Rabbinatsversammlung auf deutschem Boden und zwar in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts abgehalten wurde. Rabbi Gerschom ben Jehuda von Mainz (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda), der als Begründer des Talmudstudiums in Deutschland gilt, war der Einberufer dieser Versammlung, deren wichtigster Beschluss in dem Verbote der Polygamie bestand. Und lockte nicht bald nachher die Talmudschule unter Isaak Halevi und Isaak ben Jehuda den jungen Raschi (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi, 1040 - 1115) nach Worms)?
Damals war die Glanzzeit der Wormser jüdischen Gemeinde. Reeller kaufmännischer Großhandel verschaffte ihr Wohlstand, der es ermöglichte, dass sie, gleich dem Kaiser Heinrich IV. im Kampfe gegen seine Widersacher treu zur Seite stehen und ihm zum Siege verhelfen konnte. Aber fürstlich war auch der Lohn. Der Kaiser gewährte in einer in Worms vollzogenen Urkunde vom 18. Januar 1074, dass die Juden und die anderen Bewohner von Worms künftig als Belohnung für ihre Treue in sechs königlichen Zollstätten, worunter Frankfurt a. M. Zollfreiheit gewähren sollten.
Doch das Schicksal wollte es, dass die Wormser jüdische Gemeinde bald von ihrer stolzen Höhe in kläglichen Niedergang kommen sollte. Im Jahre 1096 bei Beginn des ersten Kreuzzugs erlag sie, die 800 Seelen zählte, grausamer Vernichtung. Das Andenken an die damaligen 12 Gemeindevorsteher, die heldenhaft starben, wird durch einen Stein mit kurzer Inschrift, der sich an der Südmauer des Friedhofs befindet, noch erhalten.
Der Beginn der 'Kammerknechtschaft' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kammerknechtschaft) der Juden datiert aus der Zeit des Zweiten Kreuzzugs, da sie gegen Geldopfer an die kaiserliche 'Kammer' den kaiserlichen Schutz vor Verfolgung erstrebten. Dennoch wurde im Jahre 1146 Rabbi Samuel ben Isaak erschlagen. Kaiser Friedrich Barbarossa gab der Wormser jüdischen Gemeinde am 6. April 1157 einen Schutzbrief. Aber bei Beginn des Dritten Kreuzzugs 1196 erlagen trotzdem einige Wormser Juden mörderischer Verfolgung. Im Jahre 1213 stiftete Judith, die Frau des Rabbi Meir (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), die Frauensynagoge. Da der Friedhof sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts als zu klein erwies, wurde er durch Niederreißen einiger von der jüdischen Gemeinde dem Andreaskloster abgekauften Häuser vergrößert.
Aus dem Jahre 1278 berichtet Friedrich Zorns Chronik: 'Die Judenschaft hat den Bürgern von Worms 400 Pfund Heller geben, dass sie ihnen ihren Kirchhof unzerstört gelassen haben, welchen sie im Sinne hatten einzureißen und gar zu schleifen.' Der kaiserliche Schutz erwies sich in der Folge nicht wirksam genug. Da schloss die Wormser jüdische Gemeinde mit dem Bischofe, der sich mit wechselndem Glücke um die Vorherrschaft in Worms bemühte und auch in Bezug auf die Gemeindeverwaltung und die Gerichtsverfassung der Juden mitzusprechen begehrte, im Jahre 1312 einen diese Fragen regelnden Vertrag, dessen Bestimmungen fast unverändert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Verhältnisse zum Bischofe in Kraft blieben, wenn sie auch durch vielfachen, späteren, das Wohn- und Handelsrecht bestimmenden Judenverordnungen der Stadt von ihrer Bedeutung einbüßten. Im Jahre 1348 wurden nämlich die Juden der Stadt mit Leib und Gut von Kaiser Karl IV. überliefert. Sei fielen 1349 während einer Seuche als 'Brunnenvergifter' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Brunnenvergiftung#Mittelalter) grausam abergläubischem Fanatismus, der von Geißlern genährt wurde, zum Opfer.
Aber schon 1355 ließ sich der Wormser Rat von Karl IV. die Erlaubnis geben, Juden, die ein unentbehrliches Ingredienz der Bevölkerung geworden waren, wieder als Stadtbewohner aufzunehmen. Die Besiedelung der Wormser Judengasse vollzog sich rasch. Nur waren die Häuser nicht mehr, wie früher, Eigentum der jüdischen Insassen, sondern durch kaiserliche besondere Schenkung nach 1349 der Stadt gehörig an die von nun an die Juden Miete dafür    
Worms Israelit 14121911cf.jpg (598033 Byte)zahlen mussten. Da auch das Wohnrecht ihnen nur für kurze Zeit zugestanden und nur immer unter schweren Bedingungen erneuert wurde, konnten sie nicht mehr zu erheblichem Wohlstand kommen. Fehlten doch auch außergewöhnlich große Anforderungen nicht. So brauchte die Stadt, um einen Gegner zu befriedigen, 1377 die große Summe von 20.000 Goldgulden, die sie zwangsweise von den Juden erholen. Diese konnten allerdings nur 6.668 fl. sofort aufbringen, aber in einer hebräisch verfassten Urkunde mussten sich 36 unterzeichnete Juden verpflichten, den Rest in vier jährlichen Raten zu zahlen.
Der jüdische Friedhof diente nicht nur den Wormser Juden, sondern auch denen der weiteren Umgegend als Begräbnisplatz. Bei jeder Beerdigung eines auswärtigen Juden erhielt sowohl der Bischof als auch der Städtmeister zwei Gulden.
Wie groß mag der Schmerz und die Angst der jüdischen Gemeinde gewesen sein, als Johannes Pfefferkorn (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Pfefferkorn) 1509 mit einem kaiserlichen Schreiben an den Rat nach Worms kam, um alle Thorarollen und talmudischen Bücher seiner früheren Glaubensgenossen zu vernichten. Ein Verzeichnis der damals in Worms vorhanden gewesenen Thorarollen, Gebet- und talmudischen Bücher befindet sich noch im Wormser Stadtarchive. Dass Pfefferkorns Vorhaben vereitelt wurde, war hauptsächlich dem Humanisten Reuchlin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Reuchlin), dem in Worms ein Standbild beim Lutherdenkmal (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherdenkmal_(Worms)) errichtet ist, zu verdanken.
Nicht minder groß muss der Kummer der jüdischen Gemeinde gewesen sein, als sie im Jahre 1519 die Wahrnehmung machte, dass städtische Werkleute den Friedhof schändeten, Grabsteine ausgruben und wegfuhren, um sie zu profanen Zwecken zu verwenden.
Im Jahre 1521 wurde von Kaiser Karl V. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_V._(HRR)) der Rabbi Samuel zum 'Obersten Rabbi im heiligen Reiche' ernannt mit dem Sitze in Worms, wo häufig Gemeindetage, Vorsteher- und Rabbinerversammlungen stattfanden, da dessen jüdischer Gemeinde eine Art Vorzugsstellung unter den Juden Deutschlands zugestanden war.
Im Jahre 1615 wurden die Juden gegen den Willen des Magistrats von aufständischen Zünftigen aus Worms vertrieben. Das Wormser städtische Archiv enthält die Akten über diesen Vorfall, dabei auch ein vollständiges gerichtliches Inventar der in den einzelnen Häusern zurückgelassenen Habe der Vertriebenen. Als sie auf kaiserlichen Befehl mit militärischem Geleite im nächsten Jahre wieder in die Stadt eingelassen wurden, fanden sie zu ihrem Schmerze die Synagoge verwüstet und viele Grabsteine auf dem Friedhofe zerschlagen. Waren durch dieses Exil der jüdischen Gemeinde schon schwere Wunden geschlagen worden, so vernichtete der bald nachher ausbrechende 30jährige Krieg ihren geringen Wohlstand vollends. Das gesamte Vermögen der Wormser Juden betrug damals in Friedenszeiten etwa 100.000 Gulden. Davon musste die jüdische Gemeinde in den Jahren 1631 und 1632 fl. 9.480 und von 1635 -37 fl. 37.726 für außergewöhnliche Kriegsschatzungen opfern. Überdies wurden in dieser Zeit aus den Speichern der Judengasse 400 Malter (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Malter_(Einheit)) Getreide , aus den Kellern 100 Fuder (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Fuder) Wein abgeführt, sodass die Gemeinde in ganz ärmliche Verhältnisse kam. Trotzdem pachtete sie, wie es schon früher geschehen war und zu veränderten Bedingungen, auch später geschah, im Jahre 1659 wieder von Kurpfalz, das 'Judengeleite' für 2.200 Gulden jährlich. Welcher Jude die Städte und Landgemeinden in den pfälzischen Ämtern, wozu damals auch die Oberämter Heidelberg, Mosbach, Bretten, Alzey, Oppenheim, Kreuznach, Bacharach mit ihren vielen Gemeinden gehörten, passieren wollte, der hatte für einen Batzen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Batzen) einen Geleitspass bei der Wormser Gemeinde zu lösen, deren Rabbiner übrigens auch für die kurpfälzischen Juden das Richterrecht in religiösen Angelegenheiten ausübte.
Und nun nahte die Zeit, die nicht nur den Juden, sondern der gesamten Bürgerschaft wieder schlimmstes Unheil brachte, die Zeit des französischen Überfalls. Zwar hatte die jüdische Gemeinde sich beim Herannahen des französischen Heeres von dessen Oberstkommandierenden Marschall Duras (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jacques-Henri_de_Durfort,_duc_de_Duras), einen Schutzbrief für ihre Straßen und ihren Friedhof erwirkt, 'nous leur permettrons de la faire afficher aux portes des rues de leur Quartier et de leur cimetière' (wir erlauben ihnen, die Tore zu den Straßen ihres Quartiers und ihres Friedhofs zu kennzeichnen, um sie vor Verwüstung zu schützen) heißt es in Duras' Schreiben vom 11. November 1688 im Lager vor Mannheim. Aber darüber setzten die sich in Worms einziehenden Franzosen hinweg, legten der jüdischen Gemeinde eine Schatzung von wöchentlich 600 Livres (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Livre) auf und ließen am 31. Mai 1689 die Judengasse bis auf wenige Häuser in Rauch aufgehen. Die Synagoge blieb im Mauerwerk erhalten. In alle Gegenden zerstreuten sich die Wormser Juden. Erst 1699 finden sich wieder Ansätze zu einer neuen Gemeinde, die unter Förderung des großen Sohnes der Wormser Judengasse, des kaiserlichen Oberhoffaktors Samson Wertheimer (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Wertheimer), der seiner Vaterstadt beim kaiserlichen Hofe gewichtige Dienste leistete, einen Vergleich mit dem Wormser Magistrat abschloss. Waren dessen Bedingungen zwar immer noch drückend, so nahm er doch von den Wormser Juden das Schlimmste, das Karl IV. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_IV._(HRR)) zu Gunsten der Stadt ihnen auferlegt hatte: Die Leibeigenschaft.
Im Jahre 1718 waren wieder jüdische Familien in Worms ansässig; die Zahl erhöhte sich 1744 auf 146 Familien. Unter den Kriegslasten, die das 18. Jahrhundert der Stadt Worms in reichlichem Maße brachte, seufzten die Juden nicht minder wie die übrigen Stadtbewohner. In den Einquartierungskosten des Stolzenbergischen Regiments im Jahre 1705, während des Spanischen Erbfolgekrieges (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Spanischer_Erbfolgekrieg) im Belaufe von 8.139 Gulden musste z.B. die Judenschaft 1.800 Gulden beitragen, 1718 wurden ihr für Türkensteuer (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstürkenhilfe) 800 Gulden abverlangt, während des polnischen Erbfolgekrieges (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Polnischer_Thronfolgekrieg) und des Siebenjährigen Kriegs (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Siebenjähriger_Krieg) hatten die Juden bei den vielen Durchmärschen von Truppen und lange andauernden Einquartierungen eine große Menge außerordentlicher Schatzungen, meistens Vermögenssteuer von ½ % - zu entrichten.
Wie schwer muss den Juden damaliger Zeit der Gewinn des Lebensunterhalts gewesen sein. Kam doch zu all den Lasten, die regelmäßig durch Abgaben an die Stadt, den Bischof bei der Vorsteherwahl, die Dalberg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)) ,welche seit frühen Zeiten bei Beerdigungen zum Schutze des Leichenzuges einen ihrer Beamten vorausschickten, an Kurpfalz für Schutz- und Geleitgeld, auch noch eine Kopfsteuer für Kron- und Opferpfennig (vgl. https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Opferpfennig) an den Kaiser.
Trotz aller Drangsal darf angenommen werden – mündliche Überlieferungen bestätigen es, - dass die Wormser Juden früherer Zeit, wenn sie keine blutigen Verfolgungen erlitten, mit ihrem Lose nicht unzufriedener waren, als andere nicht ratsfähige Stadtbewohner. Bewahrten sie doch einen kostbaren Schatz, der, nachdem mit der Wormser reichsstädtischen Verfassung auch die konfessionellen und wirtschaftlichen Schranken immer mehr gefallen waren, sich nicht in aller Reinheit in die neue Zeit herübergerettet hat. Die tiefempfundene Religion, die Gottergebenheit, die in allen Nöten Hoffnungsfreudigkeit auf bessere Zukunft gewährte.
Gewaltige Heroen des Geisteslebens, ein Rabbi Meir von Rothenburg (gest. 1293) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), ein Rabbi Jacob Möln (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), Elia Loanz (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans), R. H. Spitz, ein R. Jair Chaim Bacharach (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), Moses Brody und viele andere, die nicht nur von lokaler Berühmtheit, sondern von unbestrittener Wertschätzung in der jüdischen Religionsgeschichte sind, ruhen auf dem alten Friedhofe. Er birgt auch die irdischen Reste vieler ausgezeichneter Persönlichkeiten, die sich durch eifrige Pflege der weltlichen Wissenschaften, durch hingebende Sorge um ihre Gemeinde, Verdienste erworben haben.
Hinweis auf die Seite https://www.worms.de/de-wAssets/docs/kultur/stadtarchiv/Der-Wormsgau/WG_BH-23_OCR.pdf.  
vgl. http://www.zeno.org/Geschichte/M/Graetz,+Heinrich/Geschichte+der+Juden
 

 
Über die Wormser Juden während der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen 1689 (Artikel von 1925)    
Anmerkung: bei dem im Text genannten antijüdisch eingestellten Herrn "Seidenbänder" handelt es sich um Johann Friedrich Seidenbender, nach dem in Worms bis heute die Seidenbenderstraße benannt ist. Er war von Beruf Advokat und Mitglied im Wormser Stadtrat, seit 1685 Mitglied des Dreizehnerrates. Er erstellte nach der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen 1689 eine programmatische Schrift "Vorschläge für die Wiederaufrichtung der Stadt Worms" (Titel aus späterer Zeit), in der er auch auf die Wiederbevölkerung der Stadt eingeht. 1698 wurde Seidenbender kaiserlicher Hofpfalzgraf.
 

Artikel in der "Jüdisch-Liberalen Zeitung" vom 18. Dezember 1925: "Die Wormser Juden im Schreckensjahr 1689. Von Samson Rothschild.
Vor einigen Monaten feierte die hiesige evangelische Gemeinde ein großes Fest zur Erinnerung an die vor 200 Jahren erfolgte Einweihung der Dreifaltigkeitskirche (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dreifaltigkeitskirche_(Worms)). Bei dieser Feier wurde besonders des Stadtratsmitgliedes Seidenbänder gedacht, nach dessen Namen auch eine Straße benannt ist. Dieser um die Wiedererbauung der Stadt, nach der Zerstörung derselben durch die Franzosen, verdiente Mann, hat gegen die Juden in ganz fürchterlicher Weise gewütet. Gern hätte er die Juden nach der Wiedererbauung ausgewiesen, aber der Kaiser duldete das nicht. Man sollte es kaum glauben, was er den Juden alles während der Besetzung durch die Franzosen angedichtet.          
Worms JuedlibZtg 18121925b.jpg (346758 Byte)Einiges möge hier mitgeteilt werden und dann die Widerlegung der Anklagen durch Canstatt, einen Christen, dem Redakteur der 'Wormser Zeitung', im Jahre 1889, als 200 Jahre seit der Zerstörung verflossen waren. Seidenbänder schreibt unter anderem: 'Zeit während der Kapitulation hat sich auch dieses strafwürdig zugetragen, dass die Juden im Beisein des Magistrats als ihrer Obrigkeit auf offenem Plan durch den Schulklepper bei dem Barbesier (gemeint: der französische General-Brigadier Marquis de Barbesier) eine aparte Beschützung gesucht desgleichen sie auch durch zweimalige Abschickung in das Lager vor Philippsburg und Frankenthal  getan, dem Dauphin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dauphin_(Adel)) ein Präsent von einem ganz vergüldeten hohen Pokal zu tun, davon sie aber abgehalten worden, demselben allezeit in die Ohren gepispelt und die Hände gedrückt; und ob sie schon zum zweiten Mal von dem Stättmeister in ihre Gasse zu gehen befehlt worden, haben sie es doch nicht getan, bis ermelter (erwähnter) Schulklepper dem Barbesier (s.o.) nochmals die Hände gedrückt und bedeutet, dass er dabei kein Verbleibens habe.' Seidenbänder fährt fort: 'Als am 2. Dezember der General d’Huxelles (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Chalon_du_Blé) mit einer Suite von 70 Personen stark das erste Mal in die Stadt gekommen, haben die Juden sich herbeigemacht und im Angesicht der Stadtdeputation durch den Schulklepper Abraham zur Kanten und noch einem Vorsteher zwei geputzte fette Gänse mit goldenen Luisen (Birnen?) gefüllt in einer Schüssel, in der anderen eine große Gänseleber, in der dritten aber Zitronen und Pomeranzen präsentiert, so er auch angenommen das Fass Wein, aber, so der Herr Bischof verehren wollte, hatte er nicht akzeptiert, außerdem hat diese gottlose Nation das kaiserliche Wappen, das viele Jahre hier an ihren beiden Gassentoren angeheftet gewesen, abgerissen und das königliche französische mit sonderbarem Frohlocken angeschlagen.' Dies nur eine kleine Blumenlese, die man noch bedeutend vermehren könnte, aber sie ist genügend, um den Reorganisator Seidenbänder als 'Antisemiten' zu zeigen. Auf diese Vorwürfe antwortet Canstatt in seiner Schrift wie folgt: 'Seidenbänder dichtete den Juden mehr an, als er verantworten kann. Man sollte doch nicht vergessen, dass die Klugheit der Juden es ihnen von selbst verboten hätte, sich so schroff den christlichen Wormsern gegenüberzustellen, da sie ja gar nicht wissen konnten, wie lange die französische Okkupation dauern und wann Stadt und Land wieder in deutscher Gewalt sein würden. Ferner war die Judenschaft im 17. Jahrhundert nach der Tradition früherer Jahrhunderte viel zu sehr daran gewöhnt, sich unterzuordnen, als dass plötzlich so ein unfügbarer Gast in sie fahren konnte. Dass sie die Franzosen bestochen, scheint unwahr zu sein, da die jüdische Gemeinde nach Ausweis ihrer Archivalien arg verschuldet war und gegen alle Welt pekuniäre Verpflichtungen zu erfüllen hatte*). Es mag sein, dass bei dem Stadtbrand die Judengasse etwas glimpflicher weggekommen ist, tatsächlich jedoch erreichten ganz ohne Frage die alles verheerenden Flammen auch das damalige Judenquartier.
Die ganze innere Einrichtung der Synagoge war ja samt dem Dachstuhl ein Raub des Feuers geworden, die Synagoge selbst wurde von den Franzosen noch zum Pferdestall und von den später heimkehrenden Bürgern als Speicher benützt. Wenn man das Aktenstück liest, welches die Juden am 25. Februar 1689 an den Rat der Stadt gerichtet, kommt man zu einer anderen Ansicht als die des Herrn Seidenbänder, und was das Märchen betrifft, als hätten die Juden die deutschen Adler abgerissen und dafür die französischen Lilien angebracht, mochten wir noch die Worte eines jüdischen Zeitgenossen Rabbi Abraham Wallerstein aus Worms anführen: 'Er (der Franzose) hat all die Adler abgeschlagen, die da sind angeschlagen gewesen an den Pforten, denn über Worms ist der Kaiser Schutzherr gewesen. Also hat er die Adler herabschlagen lassen und hat seine Wappen lassen anschlagen.' Drei Lilien, und er hat lassen die Stadtmauer einbrechen. Das haben müssen die Bürger selber tun und die Juden auch.' Um aber Seidenbänder weiter zu entlarven und festzustellen, dass sich die Juden nicht in so rosiger Stimmung befunden haben, mögen noch die elegischen Worte des damaligen bewährten Rabbiners Jair Bacharach (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach) angeführt werden: 'Unstet und flüchtig irre ich seit der Zerstörung der Stadt umher, ich war in der Fülle der Manneskraft und bin plötzlich zum Greise geworden, meiner Augen Licht ist getrübt, die Schärfe meines Geistes ist gebrochen, denn Not und Elend sind meine ständigen Begleiter.'
Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, dass Seidenbänder die Tatsachen gefälscht hat, dann darf man nur den im Archive der hiesigen jüdischen Gemeinde befindlichen, in hebräischer Sprache geschriebenen Brief des Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Metz vom Jahre 1689 an den hiesigen Vorstand lesen, der leider für Milderung der vielen und schweren Leiden keinen Weg anzugeben vermag.
Fast 250 Jahre sind es, dass sich diese Geschicke zugetragen. Fast 250 Jahre sind es, dass sich diese Geschichte zugetragen. Ist’s inzwischen besser geworden, in dieser langen Zeit? Wie damals, so auch heute: Verleumdung der Juden und des Judentums aller Orten, und wenn auch die Gerichte die Verleumder bestrafen, was tut’s? 'Etwas wird schon hängen bleiben', und das ist ja die Hauptsache bei unseren Gegnern.
*Siehe hierüber meine neueste Schrift: Die Abgaben und die Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563 – 1854."     

  
Über ein Kollektenbüchlein von 1698 mit einem Spendenverzeichnis für den Wiederaufbau des 1689 zerstörten Worms (Artikel von 1891)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. August 1891: "Worms. Herr Dr. Mayer in Zweibrücken, welcher kürzlich unter dem Bücherschatze des Herrn Moses dahier ein altes Pentateuch-Exemplar (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) entdeckte, gibt in einer Veröffentlichung in der Wormser Zeitung über den 'Brand der Wormser Synagoge im Jahre 1689' (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/worms_synagoge.htm) Kunde von einem anderen interessanten Buche, welches er unter den Büchern desselben Herrn Mannheimer gefunden hat. Es ist dies ein altes Kollektenbüchlein aus dem Jahre 1698. Es finden sich darin die Spenden verzeichnet, welche die von der hiesigen jüdischen Gemeinde ausgeschickten Sendboten bei den benachbarten und entfernteren jüdischen Gemeinden eingezogen haben. Die Spenden waren bestimmt für den Wiederaufbau der durch den Brand 1689 teilweise zerstörten Synagoge und für die übrigen Gemeindegebäude, sowie auch für die niedergebrannte Judengasse überhaupt. An der Spitze der spendenden Gemeinden befindet sich die auch damals schon durch große Wohltätigkeit sich auszeichnende jüdische Gemeinde in Frankfurt a. M. Dieselbe zeichnete nämlich den für damalige Zeiten beträchtlichen Zuschuss von 1.600 Gulden. Von anderen Gemeinden seien erwähnt: Grünstadt, Eisenberg, Kerzenheim, Göllheim, Homburg, Metz, Neuwied und eine Reihe anderer Gemeinden an der Mosel und am Rheine. An der Spitze der spendenden bayerischen Gemeinden steht Fürth mit einem Wechsel auf Frankfurt."
Anmerkung zu Dr. Mayer: gemeint ist Bezirksrabbiner Dr. Israel Mayer in Zweibrücken".  
           

  
Über den Wormser Judenrat im 17. Jahrhundert (Artikel von 1902 und 1938)       

Beitrag in der "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums" 1902:  links ist nur die erste Seite des 14 Seiten umfassenden Beitrages von A. Epstein wiedergegeben. Siehe auch https://www.jstor.org/stable/23079290"
D
er Wormser Judenrat. von A. Epstein
Die Juden bildeten in jeder von ihnen bewohnten Stadt eine Sondergemeinde mit eigener Verwaltung. Zu den Obliegenheiten der Vorsteher gehörten neben der Besorgung der inneren Angelegenheiten, auch die Vertretung der Gemeinde nach außen und die Wahrung ihrer Interessen gegenüber den Übergriffen den Stadtherrn und des Reiches. Die Organisation des Vorstandes scheint nicht überall und zu allen Zeiten die gleiche gewesen zu sein. Die Gestaltung desselben hing von verschiedenen Umständen, zunächst von der jeweiligen Lage der Juden ab. Auch mussten die landesüblichen Gemeindeverfassungen als Muster ihres Einflusses auf die Bildung des jüdischen Gemeinderates ausüben. Die Verwaltung der jüdischen Gemeinden wird wohl räumlich und zeitlich mannigfaltige Formen angenommen haben. Es verlohnt sich der Mühe, den Judenrat in Deutschland näher kennenzulernen. Zu diesem Zwecke veröffentlichte ich hier eine Schilderung des Wormser Judenrats aus dem 17. Jahrhundert, wie sie uns Juspa Schammas in seinem handschriftlichen Minhagbuche (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) gibt vgl. Anmerkung 1.
Der Wormser Judenrat bestand im 17. Jahrhundert aus 12 Räten, von denen jeder einen Monat im Jahre seines Amtes waltete, und während seiner Amtsdauer Monatsvorsteher (Parnas HaChodesch) genannt wurde. Die Räte wurden ursprünglich von der Gemeinde gewählt und vom Bischof bestätigt. Die Räte hatten dann das Recht der Selbstergänzung, beim Abgange eines Mitgliedes durch Tod oder Auswanderung, ergänzten die zurückgebliebenen Vorsteher den Rat durch die Wahl eines neuen 'Ratsmannes', der ebenfalls durch den Bischof bestätigt werden musste. Zum Vorsitzenden des Rates wählten die Räte einen aus ihrer Mitte, der dann 'Judenbischof' (HaGamon Parnas) und (Parnas Chischisch) hieß. Ähnlich organisiert war der Judenrat, auch in anderen bedeutenderen Städten Deutschlands.
Über den Wormser Judenrat lautet der Vertrag von 1312 mit Bischof Emrich insoweit er uns hier interessiert wie folgt: Zum Ersten, dass der Juden Ratsleut mit dem
Anmerkung 1) Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, S. 303."      
 
Artikel im "Jüdischen Gemeindeblatt für Frankfurt" vom August 1938 (S. 13-15): "Der Wormser Judenrat.
Aus dem Minhag-Buch des Juspa Schammasch aus Worms (17. Jahrhundert) 'Von jüdischer Gemeinde und Gemeinschaft' reden, heißt die Grundlagen des jüdischen Lebens nach der Tempelzerstörung überhaupt behandeln. Insbesondere die Gemeinde des Mittelalters die so 'organisierte Diaspora', sucht die jüdische Eigenart innerhalb anderer Völker zu wahren und dem eigenen Gesetz nachzuleben. Eine wertvolle Arbeit des in Jerusalem lebenden Rabbiners Kurt Wilhelm fasst eine Reihe von Satzungen und Verordnungen zusammen. Dem soeben in der Bücherei des Schockenverlags als Nummer 86 erschienenen schönen Bändchen 'Von jüdischer Gemeinde und Gemeinschaft', das ein reiches Material in deutscher Sprache darbietet, entnehmen wir (mit freundlicher Genehmigung des Verlags) einen Abschnitt. Redaktion. 
Jiftach Jossef Juspa Manzpach stammte aus Fulda und lebte von 1623 bis zu seinem Tode im Jahre 1678 in Worms, wo er Schammasch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schammes), Vertrauensmann des Vorstands und Schreiber der Gemeinde war. Er war schriftstellerisch tätig und verfasste in hebräischer Sprache unter anderem das bisher nur handschriftlich vorliegende Wormser Minhagbuch, dass das Leben der Juden seiner Gemeinde liebevoll und treu schildert. Das Kapitel über den Judenrat ist von A. Epstein in      
Worms JuedGblFrm August 1938 S14.jpg (156509 Byte)der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 45 (1892) übertragen worden (Vgl. auch Epstein: Die Wormser Minhagbücher, ein Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, S. 288 ff.).
Der Vorsteher: Die Wahl und die Einsetzung des Vorstehers geschehen wie folgt: Die Vorsteher schreiben ihre wegen des zu wählenden Vorstehers auf und übergeben die Zettel aus ihrer Tasche dem Monatsvorsteher, der in jenem Monat amtiert. Der Monatsvorsteher mischt die Zettel durcheinander, damit man nicht erfahre, wer diesen oder jenen Zettel aus Feindseligkeit oder Zuneigung geschrieben hat. Ein jeder soll seine Meinung nur um Gottes Willen abgeben, ohne Zuneigung und Berücksichtigung oder gar Bestechlichkeit - was Gott verhüte – auch ohne jedweden Hintergedanken, denn darüber ist gesagt worden: 'Fürchte dich vor deinem Gotte' (Lev. 9,14). Man holt dann die Zettel hervor, und wer die Mehrheit hat, ist Vorsteher. Er wird durch die Vorsteher allein und nicht durch diese im Verein mit den übrigen Beamten der Gemeinde gewählt. Man teilt es sofort dem Bischof von Worms mit. Der Bischof fragt nach, ob der Neugewählte dazu durch seine Handlungen, sein Vermögen und seine Familie geeignet sei. Gleich nach der Wahl des Vorstehers wird der Synagogendiener herbeigeholt, und man sagt ihm: Der und der ist zum Vorsteher gewählt worden, geh und teile ihm und seiner Frau diese Botschaft mit. Der Synagogendiener geht in das Haus jenes Vorstehers und verkündet es ihm und seiner Frau, dabei wünscht er ihnen 'Masal tow.' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Masel_tov). Der gewählte Vorsteher muss sich sofort zusammen mit dem Synagogendiener in die Gemeindestube, den Versammlungsort der Vorsteher, begeben. Die Vorsteher verkünden es ihm ebenfalls und wünschen ihm 'Masal tow'. Er ist verpflichtet, dem Synagogendiener einen Golddukaten als Botenlohn zu geben. So ist es auch Brauch, bei der Verkündigung der Wahl eines Almosenverteilers, nur beträgt da der Botschaftslohn nur einen halben Reichstaler.
Ist der Bischof mit dem Vorsteher einverstanden, so kommt er oder sein Stellverteter in das bischöfliche Schloss und lässt die Vorsteher, den Neugewählten und den Synagogendiener, der ein Fünfbuch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) mitbringt, sich im Vorhofe des Schlosses zu einer bestimmten Stunde des folgenden Tages versammeln. Jedermann darf in den Vorhof eintreten, während die Vorsteher dort zusammenkommen. Die meisten    
Worms JuedGblFrm August 1938 S15.jpg (148054 Byte)Männer, Frauen, Knaben und Mädchen, die das Verlangen haben, sich die Wahl eines Vorstehers anzusehen, gehen hin und sehen sie sich an. Der Bischof oder sein Stellvertreter lässt die Vorsteher in das Schloss eintreten und stellt ihnen, wenn sie alle beisammen sind, die oben erwähnten Fragen. Dann kehren sie vom Schloss in den Vorhof zurück, wo die stehenbleiben und einen Kreis bilden. Der Sekretär des Bischofs tritt darauf in den Kreis ein, wo er stehend oder sitzend verbleibt. An der Seite des Sekretärs steht der Synagogendiener, in der Hand das Fünfbuch, in dem jene Seite aufgeschlagen ist, wo die zehn Gebote geschrieben sind. Der neugewählte Vorsteher legt seine Han auf die zehn Gebote, der Sekretär liest ihm aus einem geistlichen Buch den Eid vor, und er sagt ihn Wort für Wort nach. Während des Eides bedecken sich sowohl der Schwörende als alle übrigen Vorsteher. Sie bleiben nicht barhäuptig, selbst, wenn der Bischof zugegen ist. Bevor der gewählte Vorsteher geht, zieht er seine Feiertagskleider an, schneidet sich Haupt- und Barthaar und zieht ein weißes Hemd und einen weißen Kragen an.
Nach der Eidesleistung besucht man den Vorsteher, seine Frau und seine Verwandten und wünscht ihnen 'Masal tow'.  Der gewählte Vorsteher ist verpflichtet, den Vorstand zu Gastmahlen
einzuladen, wie es bei ihnen Sitte ist. Sie können ihn dazu zwingen, denn sie betrachten es als seine Pflicht. Vor der Eidesleistung übergibt man dem Bischof den Betrag, den er von jedem neugewählten Vorsteher zu bekommen hat. Nach der Wahl allein führt er noch nicht den Titel Vorsteher, auch wird er nicht zu den Versammlungen des Gemeindevorstands eingeladen, solange er nicht den Eid geleistet hat. Gleich nach dem Eide ist er in allen öffentlichen Angelegenheiten den andern Vorstehern gleich. Monatsvorsteher wird er zuletzt. Am ersten Sabbat nach der Eidesleistung wird er zur Vorlesung aus der Tora aufgerufen."    

   
Aus einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert: Besuch im jüdischen Worms (1885)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. Oktober 1885: "Von Frankfurt sind wir nach Oppenheim, wo man mit einer fliegenden Brücke (Fähre) über den Rhein geholt wird. Diese Stadt gleicht mehr einem Steinhaufen, als einer festen Stadt, weil selbige in Kriegszeit ganz und gar 'verunjenirt' ist worden; man sieht hier umliegendes Land mit viel Plaisir in Weinwachs; und weiter auf Wirms oder Worms; auch eine alte und übereinander gefallene Stadt. Hier in die Judengasse gekommen, muss man ein gelb klein Läppchen Tuch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gelber_Ring) in den Rock (Gehrock) 'spälten', ist ein solcher Gebrauch für die Juden. Hier wohnen etwa 200 Juden, haben auch eine treffliche, schöne alte Schul' (gemeint Synagoge), allwo das Altar mitten in der Schul (gemeint Almemor), von Stein gar hoch bis unter das Gewölb gezogen ist. Sonst habe ich hier viele von der alten Historie beschriebene Wunderzeichen gesehen, wovon ich gleich einige beschreiben will, was ein Jeder, der noch dorten gewesen ist, nicht leugnen kann. So steht in einer Mauer, eine 'eingebuckte Bucht', welches passierte, als eine 'tragene' (trächtige = schwangere) Frau hier vorbeigeht, so kommt ein Fuhrmann mit einem Heuwagen. Die Gasse war eng und die Frau begibt sich an die Seite dieser Mauer, um dem Wagen zu entweichen. Der Fuhrmann aber, welcher ein 'schalkhaftiger' Mann war, dringt, diese Frau zu überfahren, die Frau sich stark an diese Mauer drängt, so hat sich die Mauer eingebogen, wie noch zu sehen ist. Ich bin auch in einem kleinen 4-eckigen Gebäude gewesen, welches man Raschi-Schul (gemeint 'Raschi-Kapelle') heißt, worin der hochgeehrte Mann Raschi seinen Gottesdienst getan; auch ist hierzu ein aus Stein gehauener Stuhl, auf dem Stuhl mich niedergesetzt, um zu sagen, dass ich bin auf dem Stuhl von Raschi gesessen. Man sieht hier tiefen Höhlen, worin sich die Menschen nicht trauen, hereinzugehen, wegen der Unsicherheit, nicht wissend, welchen Ausgang dieselben haben. Auch habe ich in Worms auf einem Kirchlein (gemeint St. Martin vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martin_(Worms)) eine aus Stein gehackte Gans gesehen, von welcher erzählt wird, wie durch eine von Gott zugeschickte Gans viele Juden am Leben erhalten wurden, welche hätten um das Leben kommen sollen. Ich bin von hier in eine wunderschöne neu gebaute Stadt gekommen, mit Namen Mannheim. Das ist eine..."           

  
Im Nationalmuseum in Washington befinden sich auch Gegenstände aus Worms (1890)       
Anmerkung: zu dem genannten Harry Friedenwald siehe Artikel https://web.nli.org.il/sites/nli/english/collections/humanities/edelstein/pages/harry-friedenwald.aspx
 

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. August 1890: "Washington, 4. August. Das National-Museum hier hat durch Herrn Harry Friedenwald in Europa eine ganze Sammlung von Objekten, welche die Israeliten zur Verherrlichung ihres Gottesdienstes und ihrer religiösen Zeremonien benötigen, aufkaufen lassen. Vor allem bemerken wir in dieser Sammlung Photografien der berühmten Synagogen von Prag (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Altneu-Synagoge), Worms, Frankfurt, dann eben solche Fotografen von dem Mauereindrucke in der Wormser Synagoge, der bekanntlich der Sage zufolge von Raschis Mutter herstammen soll, und vom Triumphbogen des Titus in Rom (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Titusbogen)  mit der Menorah (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Menora) auf demselben, dann eine silberne Gewürz-(Bessomim-)Büchse (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Besamimbüchse) aus Laupheim vom Jahre 1740, eine Sederschüssel (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Seder) von Konstantinopel (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinopel) mit eingravierten hebräisch-kabbalistischen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kabbala) Worten, einige alte Sabbatlampen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sabbatampel), einen spiralförmig gebogenen Schofar (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar) aus Italien, eine Sefer Thora (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) vollständig bekleidet (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Toramantel) und geschmückt mit den heiligen Gegenständen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rimonim), mehrere Megillot (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Megilla_(Mischna)), Tefillin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin), Mesusot (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mesusa) und Arba Kanfot (= Zizit vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zizit)  in den verschiedenen Größen und Formen, einige bunt gemalte Misrachim (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Mizrachim) mit den üblichen Bibelversen auf denselben, einige Menorath (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Menora), Schlachtmesser (Chalofim) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten) und dergleichen mehr. So schmücken sich nichtjüdische Museen mit unseren religiös-zeremoniellen Objekten - so mache ich Dich zur ewigen Pracht, zur Freude aller Geschlechter (Jesaja 60,15)."            

   
Zum 300-jährigen Bestehen der Raschikapelle (1924)       

Artikel in der "CV-Zeitung" (Zeitschrift des Central-Vereins) vom 17. Juli 1924:  "Zum 300jährigen Bestehen der Raschikapelle in Worms. Von Hofrat Max Levy (Worms)
David Oppenheim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)) hat im Jahre 1624 seiner Heimatgemeinde Worms die Raschikapelle gestiftet. Es ist ein schlichter, an die alte Synagoge angelehnter kleiner Bau aus rotem Sandstein von kaum 20 Quadratmeter Gesamtfläche. Um die Seiten ziehen sich mit gehobelten Brettern überzogene aufgemauerte Sitzgelegenheiten, die an der zugespitzten Stirnseite an einen erhöhten steinernen Sessel münden, auf dem der Lehrer thronte. Der Sessel scheint nach dem gemeißelten Vorderteil der Wände viel älter als die Kapelle und von einer anderen Stelle in sie verpflanzt zu sein. Oder aber die alte Kapelle war baufällig, wurde abgebrochen und von Oppenheim erneuert und den Steinsitz – der 'Raschistuhl' – wurde in sie übernommen. Diese an und für sich geringfügige Sache wird nur deshalb hier besonders erörtert, um an ihr zu zeigen, wie echte Deutsche unsere Juden sind. Es entstand nämlich eine 'querelle allemande' unter zwei jüdischen Gelehrten von Ruf, ob Raschi in einer Kapelle an diesem Platze sich schon aufhielt! und lehrte oder in einem anderen, 20 Meter davon befindlichen Gebäude.
* Wer Raschi ist, auf den die Juden stolz sein können, wissen nicht einmal alle mehr, die die Bibel im Urtext lesen können und noch weniger die, so dazu außerstande sind. Warum sollen sie in Bezug auf ihre Herren mehr wissen las jene Rekruten, die einige Jahre nach Bismarcks (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck) Tode in der Instruktionsstunde nach ihm gefragt wurden, und von denen nur der allerkleinste Teil vom Reichseiniger einen schwachen Dunst hatte? 'Raschi' ist in Bezug auf Namensbildung ein Urahne der 'Hapag' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hapag-Lloyd), eine Zusammenziehung der ersten Buchstaben von R a bbi Sch lomo ben I’zchak. Er war in Troyes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Troyes) in Frankreich 1040 geboren, beschäftigte sich früh mit der jüdischen Wissenschaft, besuchte, als er 20 Jahre alt war, die damals berühmtesten jüdischen Lehrstätten in Worms und Mainz, begab sich dann nach seiner Heimat zurück, wo er ehrenamtlich Lehrmeister von Weltruf in jüdischen Dingen wurde und seine freie Zeit - er ernährte sich wahrscheinlich durch Weinbau – dazu benutzte, Kommentare zur Bibel und zum Talmud zu schreiben, die später selbst von Luther (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther) beachtet wurden und auch heute noch in ihrem Scharfsinn und natürlichem Verstand nicht übertroffen sind.       
Worms CV-Ztg 17071924a.jpg (212115 Byte) * In Worms geht die Sage, dass eine Ohrfeige von unsichtbarer Hand erhalte, wer auf den 'Raschistuhl' in der Kapelle sich setze. Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, sondern soll besagen, dass, wenn Junge alles besser wissen wollen als die Alten und durch ihr Draufgängertum alte Erfahrung und Besonnenheit ersetzen wollen, sie sich und andern schaden. Lange Zeit war der Autoritätsglaube die Grundlage nicht nur der jüdischen Religion, sondern auch des jüdischen Familienlebens. Was in der Bibel steht, unterstand keiner Kritik. 'Es steht geschrieben …' und man glaubte und die Kinder folgten auch in weltlichen Dingen ohne Widerrede der Elternmeinung, selbst, wenn sie glauben durften, dass das Recht mehr auf ihrer Seite stand. Wenn jüdische junge Dichter das Milieu der Gegenwart widerspiegelten, wäre es damit nun ganz anders und die Familienband wiesen nicht mehr die alte Dichtigkeit und Tüchtigkeit auf. Ganz so schlimm ist es aber nicht. Die Juden der Gegenwart sind auch Kinder der Zeit, genauso wie ihre andersgläubige Umgebung. Gewiss ist der alte Autoritätsglaube gelockert und die Jugend fordert das Recht eigenen Denkens und das Lebensführung nach eigenen Denkens und der Lebensführung nach eigenem Überlegen. Sie will mehr als früher nicht mehr auf Füßen anderer, sondern auf eigenen handeln. Aber Kritik der Jungen sollte doch nicht historisch Gewordenes in Bausch und Bogen über Bord werfen, als alles 'veraltet' verlassen, die Ehrfurcht vor den Alten vermissen lassen und sich nicht das Diktum Oskar Blumenthals (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Blumenthal) aneignen: 'Wenn ich vor allen grauen Haaren Respekt haben sollte, hätten die Esel am meisten darauf Anspruch.' Gewiss war es nur ein Scherz von Blumenthal, aber statt besonnener Evolution rabiates Hervorkehren von Extremen stößt ab und schadet nicht nur den jugendlichen Eiferern. Gerade da kann die Persönlichkeit Raschis vorbildlich wirken. Nicht wie ein blindes Huhn, das hier und da einen Brocken erhascht und von seinem Funde durch lautes Gackern Kenntnis gibt, strebte und wirkte er. Schlicht und bescheiden, voll Eifer sein Leben lang die Wahrheit suchend, schuf er Unvergängliches.
* Nicht nur die Juden von Worms sind stolz auf Raschi, sondern auch die Stadt ehrte den trefflichen Mann, der einst in ihren Mauern sich aufhielt, indem sie ein Tor an ihrer alten Umfassungsmauer 'Raschitor' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschitor) benannte. Die jüdische Gemeinde hat vor dem Kriege Mittel, die ihr von Samuel Loeb (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Salomon_Loeb), einem geborenen Wormser, Mitbegründer der New Yorker Bankfirma Kuhn, Loeb u. Co. und Schwiegervater von Jakob Schiff (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Heinrich_Schiff), zur Verfügung standen, zur Herausgabe von Preisschriften über Raschi, die von den Rabbinern Dr. Beermann und Doctor verfasst wurden und die Bedeutung Raschis für seine Zeit und die Gegenwart schildern. Jetzt hat der verdienstvolle Lehrer und Sekretär der Wormser Gemeinde, S. Rothschild, eine Schrift 'Raschi' mit Illustrationen (Verlag Ch. Herbst, Worms) erscheinen lassen', sie wird nicht nur von Juden gern gelesen werden, da sie in volkstümlicher Form die Persönlichkeit eines Mannes vorführt, der auf Nachruhm vollen Anspruch hat."    

 
Fahrt des Jüdischen Turnerbundes aus Frankfurt nach Worms (1927)      

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. November 1927: "Eine Fahrt mit dem Jüdischen Turnerbund nach Worms. Dichter Nebel lag über der Stadt, als wir am Sonntag, den 30. Oktober, Frankfurts Gemarkung in Erwartung der vielen Sehenswürdigkeiten, die sich uns bieten sollten, verließen.
Nach fröhlicher Bahnfahrt in Worms angelangt, wurde unsere Spannung bald durch die Besichtigung der einzelnen Sehenswürdigkeiten gelöst. Die Herren E. Heidelberger, Mannheim, und E. Hirsch, Worms, übernahmen in liebenswürdiger Weise die Führung und konnten uns dank ihrer reichen Kenntnisse nähere Erklärungen über alles Sehenswerte geben. Wir durchschritten das ehemalige Ghetto mit seinen engen Straßen, in welchen sich dereinst so viel jüdisches Leben abgespielt hat. An die Besichtigung des Ghettos sowie sonstiger Bauten und Sehenswürdigkeiten schloss sich die Besichtigung der Synagoge, der Raschikapelle, der Mikwah und des Museums an. Hierbei hat sich uns Herr Lehrer Rothschild (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Rothschild)*, der eng mit der Wormser Geschichte vertraut ist, in liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt und uns in einem sehr inhaltsreichen Vortrag über die Geschichte der alten 'Judenstadt' vieles erzählt. Redner streifte in seinem, von uns mit großem Interesse aufgenommen Vortrag die Geschichte der Stadt Worms seit Entstehung der ersten jüdischen Ansiedlung (1034) bis zum heutigen Tag; erzählte u.a. von der Thorarolle des Maharam Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), von den Sch’ne Orchim, sowie von den 12 Parnossim (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas) und gab eine eingehende Erklärung über die Synagoge selbst. Nach Besichtigung des alten Friedhofs begaben wir uns zum Bahnhof, um die Weiterfahrt nach Bensheim anzutreten. Eine kurze Wanderung durch herrlichen, herbstlichen Wald beschloss den so lehrreichen Ausflug, und vollauf befriedigt über den harmonischen Verlauf des Tages fuhren wir ab Hähnlein nach Frankfurt zurück. Dichter Nebel lag wieder wie am Morgen über der Stadt, als wir gegen 8 Uhr hier ankamen. Wir kehrten mit dem Bewusstsein zurück, durch unseren Ausflug nach Worms eine Stätte frühester und bedeutendster jüdischer Kultur besucht und kennengelernt zu haben."
*Zu Lehrer Samson Rothschild siehe auch: http://www.warmaisa.de/stolpersteine/rothschild-samson-1848-1939/             

  
Zu Besuch in Worms (1929)     

Worms Israelit 18041929.jpg (852287 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18. April 1929: "Wenn man um zwei Minuten den Zug versäumt. Kleine Erlebnisse auf kleiner Tour.
Schuld waren zunächst Rabbi Naftali Hakohen (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Naphtali_Cohen) und dann die breiten Quadrate des Mannheimer Straßennetzes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratestadt).
Das war nämlich so. Ein lieber Freund in Mannheim überreichte mir, im Gedenken an meine 'Feuerzeichen' und in Erinnerung an die Mannheimer Zusammenkunft, einen alten, vergilbten Fürther Druck, der das Testament Naftali Hakohens, des Rabbi aus der Zeit des Frankfurter Ghettobrandes, enthielt. Spannende Blätter, voll tiefer Gedanken, wie geschaffen für Nachtlektüre bei abgedunkeltem Lichte. Ich hatte nachts zu lange und zu tief in die alten, ewig neuen letzten Wahrheiten und Weisheiten geschaut. Und morgens, nach dem kurzen einsamen Gebete im Hotelzimmer, noch einmal hineingesehen. Noch zwanzig Minuten Zeit. Und durch die schönen breiten Straßen Mannheims ist gut gehen und gut finden. Noch reichlich Zeit zum Zuge!
In Mannheim kann keiner irre gehen, nur kommt man meisten immer woanders hin… Die Straßen sind so gebaut, als hätte ein Kind aus der ersten Vorschulklasse nach der neuen Arbeitsmethode den Plan dazu entworfen: Schön ornamental, exakt symmetrisch, hell und heiter, mit buntem, breitem Bord an den Ecken und graugrüner Einlage in der Mitte. Die eine Straße, genau wie die andere, der erste Platz wie der zweite, alle nummeriert, uniformiert und alle gleich schön. Und dennoch ist es ärgerlich, wenn man bei dieser schönen Gleichförmigkeit zehn Minuten vor Abgang des Zuges statt am Bahnhof an dem prächtigen Rosengarten (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rosengarten_(Mannheim)) landet.
Da erst tue ich das, womit ich eigentlich gleich im Hotel hätte beginnen müssen. Ich wende mich an einen Chauffeur mit der Frage, wie man von hier am besten und schnellsten nach dem Bahnhof gelange. Man soll sich immer bei diesen bewährten Führern der Menschheit befragen, man 'fährt' gut dabei. Er gibt mir kluge Antwort: 'Am besten und schnellsten kommen Sie an den Bahnhof, wenn Sie sich in meinen Wagen setzen…' Ein guter Rat, ich habe ihn nicht bereut und kostete mich nur achtzig Reichspfennige…
Aber zu spät kommt die Einsicht – zwei Minuten zu spät. Der Schnellzug nach Frankfurt war vor zwei Minuten abgefahren. Ich hatte nicht einmal das Nachsehen. So rasch können Schnellzüge sein, wenn man sie versäumen soll.
Aber die Badenser Bahnbeamten sind joviale Leute, so nett und höflich, als würden sie französisch sprechen. (Siehe Feuilleton 'Menschen und Menschen' in Nr. 14 des 'Israelit'.) 'Es geht noch ein Zug', tröstete der Mann hinter der Schalterklappe. 'Steigen Sie nur ein!' ermutigte der Mann mit dem blinkenden Messingschild an der Brust und dem bescheidenen Titel 'Portier'. 'Ja, wohin fährt dieser Zug?' 'Sie komme schon nach Frankfurt!' ' Heute noch?' 'Heute!' So stieg ich ein. Und damit beginnen die Erlebnisse.
Zunächst bringt mich der Zug über die monumentale Rheinbrücke (vgl. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Mannheim_Rheinbrücke_loc_00324v.jpg)  nach dem etwas harten und arbeitsgrauen Ludwigshafen hin, in einem Wagen, der vollgestopft ist mit Männern und Frauen, die zur Arbeit hinüberfahren. Einige, zumeist ältere Jahrgänge, sehen recht ausgeschlafen und ausgeruht aus, andere, jüngere, haben sich von der Sonntagserholung noch nicht erholt und wieder andere sitzen still in der Ecke und brüten wohl über das letzte Glas von gestern nach. 'Was ist der Mensch, wenn eine Kanne ihn umwirft?!...' Alle sprechen von dem seligen Karl Benz, dem Erfinder des Motorwagens, der gestern, Sonntag, mit 85 Jahren in der Gegend (vgl. Link) zur letzten Ruhe getragen wurde. Das von ihm in den achtziger Jahren zuerst konstruierte Wagenmodell (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Benz_Patent-Motorwagen_Nummer_1), damals Wunder der neuesten Technik, wurde hinter dem Leichenwagen hergefahren. Es mutete wie ein Monstrum von anno dazumal an… Sie sprachen nun von dem seligen Karl Benz und von der 'schönen Leiche' (gemeint: Begräbnis). So viele Blumen, so viele Fahnen! Ein kleiner Streit entspann sich; der drohte, in Tätlichkeiten auszuarten. Einer verstieg sich zu der Behauptung, Benzin komme von Benz, er habe diesen feurigen Stoff gleich miterfunden. Ein anderer behauptete gerade das Gegenteil: Der geniale Erfinder habe sich den Namen Benz zugelegt, weil er eben mit Benzin arbeitete. Ein dritter entschied überlegen, beides wäre blühender Unsinn. Darüber ein vierter und ein fünfter und ein sechster laut und spöttisch lachten. Da einigten sich der erste und der zweite gegen den dritten, und alle drei gegen die Lacher und Spötter. Zum Glück dauerte die Überfahrt nach Ludwigshafen nicht so lange, um eine solche Affäre ausreifen bis zur letzten Phase ausreifen zu lassen.
In Ludwigshafen wartet auf dem anderen Geleise der Schnellzug, als wäre er eigens für mich angespannt. In zwanzig Minuten bringt er mich durch das flache Land der bayrischen (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Pfalz_(Bayern)) und hessischen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinhessen_(Provinz)) Pfalz, wo die winterlich dürren Weinberg mit Apfelbaumskeletten am Rande umsäumt sind, nach Worms. Und hier sagte der Stationsvorsteher kalt und sachlich (in Hessen sprechen die Beamten 'deutsch'): 'Anschluss nach Frankfurt in zwei Stunden, Personenzug!'
Nun erfasse ich den höheren Sinn der versäumten 'zwei Minuten'. Ich werde noch einmal die alten Gassen von Worms sehen.
Ich grüße dich, zum so und so vielten Male, alte schöne Stadt am Rhein, durch die der Fuß Raschis und der Tosastiften geschritten ist. Durch die Hauptstraße gleich hinein in das Gewinkel der engen Gassen bis ans Viertel mit dem alten Brunnen in der Mitte, umgeben von Rundtürmen, Zinnen und Kuppeln. An alten Kirchenmauern rankt sich noch totes Weinlaub. Aus diesen drei Domportalen werden sich die Horden mit dem Symbol der Liebe in der einen, dem Mordbeil in der anderen Hand, unter dem Geläute der großen Glocken, in die enge Gasse ergossen haben… Die kleinen Giebelhäuschen hinter den neuen Fassaden schmiegen sich heute noch so scheu hintereinander, wie die Schäfchen, in deren Reihen der Wolf eingebrochen ist.
Aber auch etwas von der Geruhigkeit und vom stillen Glücke alter Zeiten schaut durch die vergitterten kleinen Scheiben. Festesfreude rauscht durch die Luft. Ein Hochzeitszug mit Zimbel, Pauke und Trompete und mit zitternden Fackeln bewegt sich durch den Nebel dem Schulhofe zu…
Ist nicht durch diese hohle Gasse, zwischen den zwei grauen Brandmauern, der Rabbi von Bachrach (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach) geeilt, vom Grauen gejagt, in weitem Mantel gehüllt, da die schwarzen Männer die Kindesleiche unter seinen Sedertisch geworfen? Fest umklammert hält er den Arm seines Weibes und zieht es nach sich. 'Mache die Augen zu, schöne Sara!'… Und Jaekel Narr und Nasenstern, und Hündchen Reiß und die Schnapperell, und wie sie sonst alle hießen… (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/rabbi_von_bacharach.htm).  Das war in Frankfurt? Ob Frankfurt, Mainz oder Worms, das Gesicht des Ghettos war überall gleich.
Da gehe ich durch das Raschitor (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschitor). Durch zwei Pforten wälzt sich reger Stadtverkehr. Hier ist die 'eingedrückte Mauer', die ein jüdisches Weib, mit einem Kinde unter dem Herzen aufnahm, als ihm in der Enge von einer Fuhre der Tod des Erdrückens drohte. War es die Mutter Raschis (die nie Worms gesehen hat), oder die des Rabbi Jehuda Hachassid (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel), der wirklich in dieser Stadt zur Welt kam? Das Symbol bleibt! Wie oft wurde hier und in den alten Gassen Mutter Zion von Gewalt und Rohheit in die Enge getrieben, an die Wand gedrückt. Die blühende Frucht unter dem Herzen war bedroht. Aber es tat sich die rettende Nische in der Mauer auf, und die Frucht blühte weiter, indes draußen ein falsches Licht nach dem andern erlosch und rohe Kräfte brachen und verfielen. Dieses ganze Ghetto, es ist eine Nische, in der bedrohte jüdische Zukunft Rettung und Bergung fand…
Durch die Andreasgasse am Dome vorbei gelangen wir in das heiligste Reich (alter Friedhof; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand) der Vergangenheit. Es ist hier Winter, wo die Bäume weniger üppig und das Laub dürr und durchsichtig ist, leichter sich auszukennen. Hier ist das Massengrab der Märtyrer aus dem Schreckensjahr 4856 (Pogrom vom Mai 1096 in Worms durch Emicho (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)), von denen das Klagelied von Wirmaisa (Warmaisa, hebr. für Worms) in unseren Kinoth (hebr. Klagelieder) spricht. Nicht weit davon das Grabmal von Rabbi Meier von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und etwas von ihm abstehend das von Rabbi Süßkind Wimpfen (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen) aus Frankfurt, der sein ganzes Vermögen hergegeben hatte, um die heiligen Überreste des Gefangenen aus der Festung http://www.alemannia-judaica.de/ensisheim_synagogue.htm zu retten und in der heiligen Erde zu bestatten. Gar nicht weite davon ruht Rabbi Jacob Möllen, der 'Maharil' (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin).Wie ein Singen und Klingen geht es aus diesem Grabe, Melodien mit und ohne Worte, die Generationen in Gotteslob verbinden… Und andere, und wieder andere, jedes Grab ein Kapitel jüdische Geschichte, ein Zeuge jüdischer Glanz- und Leidenszeit zugleich. Gesegnet die zwei Minuten, dass ich euch, heilige Gräber, heute Morgen noch einmal grüßen darf…
Zurück an der alten Synagoge (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_Worms) vorbei. Für den Steinstuhl (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/worms_synagoge.htm) in der Kapelle, auf dem Raschi gesessen und gelehrt, reicht es nicht mehr. Die 'zwei Minuten', die mich zwei Stunden gekostet, oder richtiger mir eingebracht, dürfen sich nicht wiederholen.
In den alten Gassen, durch die der Geist der jüdischen Geschichte sichtbarlich wandelt, sah ich kaum ein jüdisches Gesicht, auch in den neuen nicht. Es ist Montagmorgen, Geschäftszeit und die Nachkommen der Ghettobewohner sitzen in den Büros oder hinter Ladentheken oder sind auf Reisen. Am Bahnhof sehe ich deren einen ganzen Trupp. Viehhändler oder Fruchthändler aus Osthofen, Gau-Odernheim, Hillesheim, Heßloch, oder wie sonst die Dörfer und Flecken am linken Rheinufer heißen. Sie kommen zur Fruchtbörse oder fahren zum Viehmarkte. Ich kenne den Typ. Zumeist wetterfeste Gestalten mit guten, treuen jüdischen Gesichtern, ländlich, aber gut angezogen. Der alte Viehhändler im blauen Kittel mit dem Knotenstock in der Hand ist ausgestorben. Jüngere haben den Schnurrbart gut gedreht und tragen graue Regenmäntel weltmännisch auf dem Arm. Alle grüßen, obwohl mich keiner kennt, grüßen in mir den Juden, den Bruder.
Im Bahnwagen komme ich mit einigen ins Gespräch. Wackere, brave Männer und missmutig. Das Leben auf dem Lande ist heute schwer. Der Viehhandel, und nicht minder der Fruchthandel, liegen im Argen. Wenn der Bauer nichts hat, hat auch der Jude nichts. Wehe aber wenn sich letzterer von eigener Not dazu treiben lässt, den verschuldeten Bauer etwas hart anzupacken…
Es sind ohnehin Männer am Werk, dem Bauer klar zu machen, dass an allem der Jude schuld sei… Die Jüdischkeit auf dem Lande?           
Worms Israelit 18041929a.jpg (430371 Byte)Ein heikles, trübes Kapitel. Die Gemeinde nimmt von Jahr zu Jahr ab. Meistens hört man sagen: 'Seit der Bernhard, seit der Heinrich, seit der Baruch tot ist.' Dieser Bernhard, dieser Heinrich und dieser Baruch, es waren die Einzelnen, die letzten, an denen noch alles hing, die das Ganze zusammenhielten. Seitdem die tot sind, geht es vollends abwärts. Man kann keinen Lehrer mehr halten, die Kinder haben mangelhaften oder gar keinen Religionsunterricht. Die Alten halten noch den Sabbat, wie sie ihn verstehen, die Söhnchen haben rote Kappen auf und fahren am Sabbat in die Stadt zur Schule, am freien Sabbatnachmittag und am Sonntag gehen sie auf den Sportplatz… Es ist gar nicht so schwer, auf dem Lande den Sabbat zu halten und man hält ihn auch soweit. Man geht 'schulen' (Synagoge besuchen) und man 'ort' (betet). Wenn zwei aus dem nächsten Dorf mit der Bahn am Sabbat angefahren kommen, gibt es auch Minjan (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minjan) …Nach Schul (Synagogenbesuch) geht man ins Wirtshaus, spielt und trinkt und zahlt auch. Dass es lauter Ungeheuerlichkeiten sind, wissen sie nicht mehr. Am Sabbat wird recht gut gegessen. Dass man die Speisen am offenen Feuer auch nicht einmal wärmen darf, wissen sie nicht. Es hat ihnen keiner gesagt. Vor dem Schlafengehen greift jeder zum Gebetbuch, keiner geht ohne Nachtleienen zu Bett. Morgens legen die Alten Tefillin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin)  an, oft vor Tag und beten weiter hinter der Kuh, die sie im Morgengrauen zum Markte treiben. Die Jungen fürchten sich bei Tag nicht…
In den Haushalten ist es überall streng koscher, sofern man die Schechita (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten) am Platze oder in der Nachbargemeinde als solche bezeichnen darf. Die Alten nehmen ihre Hauswurst mit auf die Reise, wie anno dazumal. Die Jungen?... Stundenweit gehen die braven Menschen zu Fuß über Land, um letzten Liebesdienst einem toten Bruder zu erweisen, oder Trostbesuch bei dessen Verwandten zu machen. Die Gastfreundschaft zu Hause ist grenzenlos wie im alten Ghetto. Jahrzeit (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jahrzeit) wird streng eingehalten. Am Purimabend (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Purim), so erzählte mir der Parneß (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas) von H… stolz, fehlte keiner. Aber es war keiner da, der aus der Megilloh (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Megilla, gemeint ist hier das Buch Esther, aus dem an Purim zu Ehren von Königin Esther gelesen wird) lesen konnte. Seitdem der Bernhard tot ist…
Man las aus dem Chumisch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chumasch), die Megilloh (das Buch Esther) lag daneben. Morgens waren nicht alle da, und die, die da waren, hatten große Eile, denn in Osthofen war Markt. Man begnügte sich daher mit den ersten zwei und dem letzten Abschnitte. Mein Entsetzen darüber begreifen sie nicht. Es sagt ihnen auch keiner.
Alle klagen sie über die Rabbiner, die sich 'nicht sehen lassen.' Es wäre noch so manches zu machen. Hochzeiten finden am Platze nicht mehr statt, und 'Beerdigungen' besorgt der Herr Lehrer aus der Nachbargemeinde, von wegen der Kosten. Auf die Weise bekommt man den Herrn Rabbiner nie zu Gesicht. (Das gilt in diesem Zusammenhange lediglich für Rheinhessen).´ Überhaupt, dass sich keiner in der Stadt, wo so viel von der Not der Landgemeinden und der Landflucht gesprochen wird, um ihre geistigen Nöte kümmert! Ingenieure, Agronome, Bauräte kommen im Winter ins Dorf und belehren die Bauern über ihre Bebauung des Bodens, über Dünger, Maschinen, Ausnutzung des Raumes beim Bau von Haus und Garten. Reichstags- und Landtagsabgeordnete kommen und orientieren die Landleute über Politik, Partei und Parlament. Warum kommt man nicht, die Juden aus dem Dorfe, und insbesondere die Jugend, in der Religion zu unterweisen, sie zu unterrichten, zu belehren, etwa über den Sabbat, die Erziehung?
Nur eine Partei kommt, die des Zentralvereins (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Central-Verein_deutscher_Staatsbürger_jüdischen_Glaubens). Aber auch die Dorfjuden empfinden es zu innerst, dass das wohl eine recht wichtige, aber doch nur äußerliche Sache ist. Es gibt sonst noch Fragen im Judentum, die nicht gerade mit Hitler und Ludendorff (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Ludendorff) und dem 'Stürmer' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Stürmer)  zu tun haben. Davon erfahren sie auf dem platten Lande so gut wie nichts… Ich gewann sie von Neuem lieb, diese ehrlichen, braven Menschen. Bei all ihren Mängeln, ihrer Unwissenheit und Unkenntnis. Es ist schon beinahe mehr Schicksal, denn Schuld. Und wenn schon Schuld, dann mit unsere Schuld… Vielleicht bringt diese Gewissheit Nutzen.
Von Biblis ab bin ich allein, und ich studiere die tiefen Worte aus dem Testamente des Rabbi Naftali Hakohen zu Ende - über die jüdische Seele, die nie und nimmer an Glanz verliert, die, wie Salomos Teppiche, wohl Schmutz und Staub annimmt, aber gewaschen und gereinigt wieder gleich dem Äther glänzt, wie am ersten Tage, wie das Licht aus dem Urquell, dem sie entsprossen ist…
Zwei Stunden später fahre ich mit der Achtzehnerlinie der Frankfurter Straßenbahn durch die alte Stadt. Ein Blick nach rechts in die alten, krummen Gassen und auf die alten, zum Teile neu und bunt gestrichenen Giebelhäuschen um den Dom (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserdom_St._Bartholomäus)  herum und dahinter bis zum Maine und weiter nach dem Börneplatz zu und an der alten Friedhofsmauer vorbei, hinter der es zwischen schwarzgrauen Ästen schon grünlich schimmert. Auch, erst recht hier, gäbe es mancherlei zu schauen. Aber, um all dieses so gesammelt zu sehen und zu genießen, wie mir dies heute Morgen in Worms gegönnt war, darf man nicht in Frankfurt wohnen und leben, sondern man müsste schon über Frankfurt kommen und hier für einige Stunden den Anschluss verpassen…".     

    
Ausflug von Frankfurt auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)        

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. Mai 1930: "Die Frankfurter Aguda zu Besuch bei Raschi.
Die Fahrt. Die Sache begann mit einem Minjangottesdienst kurz nach 5 Uhr in den Räumen der Aguda. Als erste Prämie wurde den Frühaufstehern ein heißer Kaffee von überzeugender Schwärze und Stärke serviert.   
Worms Israelit 30051930a.jpg (844359 Byte)Als wir, so erfrischt, kurz nach 6 Uhr mit dem Stabe an die Bahn kamen, sah schon die ganze Bahnhofshalle gut jüdisch und agudistisch aus. Auch ältere, würdige Herren und Damen mit Schirm und ein Mantel der weisen Voraussicht sind dabei, aber vorherrschend ist die Windjacke frischer Jugendlichkeit. Unser Verkehrsminister ist am Platz und in voller Tätigkeit. 'Wir zählen die Häupter unserer Lieben, und siehe, es sind zehn mal sieben.' Natürlich dies nur des schönen Reimes wegen. Eine spätere Volkszählung am Rheine ergab – mit den von auswärts Hinzugekommenen – die Zahl von 85. Wir sind glücklich verladen, haben einen eigenen Agudawagen und rollen frisch und froh dem Rheine zu. Eine herrliche Frühsonne lacht uns zum Fenster hinein und mit Lachen und Singen wird der Gruß erwidert. Spätlinge packen ihre Teffilin (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin) aus, andere bereits belegte Brote. Frische Zeitungen gehen von Hand zu Hand. Die Nebenwagen sind voller Ausflügler anderer Art. Auf irgendeiner Station ist ein ganzer Verein mit Fahne anmarschiert. 'Wo ist der Gauleiter?' schreit einer. Und zum Fenster unseres Wagons hinaus wird ihm die Antwort: 'Hier ist kein Goj leider (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Goi), lauter Juden!'
Wir fahren weiter. Unterwegs nehmen wir noch Passagiere auf. Auf einer Station steigt der Herr Lehrer aus C. (vermutlich Crumstadt) zu uns ein, er vertritt würdig, vergnügt und frohgemut seine ganze Gemeinde. In Biblis tauchen die bekannten lieben Gesichter aus Mainz und Wiesbaden auf, die überall in der Aguda mit dabei sind und die echte rheinische Fröhlichkeit mitbringen.
(Foto): Die Frankfurter Aguda vor der alten Synagoge in Worms
Als so gegen 9 Uhr die ersten noch verschlafenen Wormser Sonntagsgesichter durch die Fenster schauten, bewegte sich, nicht gerade militärisch in geschlossenen Kolonnen, ein Zug durch die alten und neuen Gassen, wie er nicht oft gesehen wurde.
Bei Raschi. Wir stehen im alten Chuppohof (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chuppa), werfen einen Blick auf und in die 'alte Schul' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_Worms), in der Raschi (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) noch 'gebetet' hat (sie ist 1034 erbaut), in der die Märtyrer der Kreuzzüge sich für den letzten Gang gerüstet, in der später Maharil (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin) seine letzten Lieder gesungen und seine letzten Mahnworte gesprochen und in der noch später Juspha Schammes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), ein stiller Heiliger, dreißig Jahre heiligen Dienst versah! Er würde es heute nicht mehr tun, denn durch den geweihten Raum mit der Thorarolle des Maharam von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), mit der Fülle von heiligen Reliquien tönen und höhnen zuweilen Orgelpfeifen. Und, dass den Damen kein Ton davon verloren geht, sitzen sie unten im Anbau, durch keine Tür und keinen Vorhang von den Männern getrennt. Eine solche Wandlung (oder Vandalismus) konnte der Verfasser des Wormser 'Nissim'-Buches nicht ahnen.
An der Straßenfront gegenüber der alten Schul (= alte Synagoge) erhebt sich auch eine neue Synagoge, hübsch und gut gebaut. Leider hat das einzige Haus im heutigen Worms, das am Schabbos (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sabbat) geschlossen hält ... Die Synagoge wird nur zu den hohen Feiertagen (insbesondere https://de.wikipedia.org/wiki/Rosch_ha-Schana und  https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) aufgemacht, da das kleine Minjan (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minjan) der Ausländer und sodann die alte Schul für die Beter, die sich an diesem Tage an ihren Gott erinnern, nicht ausreichen. Sonst ist dieser Synagoge nichts nachzusagen. Hier hatte man den Geschmack und den Anstand, eine Orgel nicht einzubauen.
Wir steigen in das alte Tauchbad (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe_(Worms)) hinunter. Ein richtiger romanischer Katakombenbau aus dem 8. der 9. Jahrhundert. Man hat diese alte Tauchbad erst dieser Tage entdeckt. Das Wasser ist ihm längst ausgegangen, wie so manche Quelle leider auf diesem historischen Boden versiegt ist… Zur Zeit baut die Gemeinde vornehmlich auf Betreiben einiger der dort ansässigen Ostjuden, eine neue Mikwah.
Und nun sind wir in der Raschi-Kapelle. Über 80 Menschen füllen sie bis an den Rand. Ergreifend ist jeder Stein in diesem alten Lehrhause, aber die Wände sind in den letzten Jahren etwas kitschig angemalt worden. Das elektrische Licht hier wie in der Schul (Synagoge) stört die Illusion, aber im Vorraum hängen die großen Laternen mit denen Rasenstern und der rote Luchs und Wacholder und wie die Wächter alle damals hießen, die das Ghettotor bewachten. Auf dem Tisch in der Kapelle liegt ein dickes Buch, in das die Namen der Besucher eingetragen werden. Unzählige Namen von Juden und Nichtjuden, von Menschen, die da kommen, um alte Bautechnik zu bewundern und von Menschen, die die Ehrfurcht vor den Mahnen Raschis, Rabbi Meirs (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und Maharils (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin) hierhergeführt…
Das Gedränge im kleinen Lehrhaus ist nun durch die Frankfurter Invasion so bedrohlich, dass die an die Wand Gedrückten auf eine Wiederholung des 'Wunders von der eingedrückten Mauer' harren müssen, wenn ihnen nicht der Atem ausgehen soll. Es sind auch ein paar Wormser dabei. Noch auf der alten Steinbank steht der Referent und geistige Führer der Expedition und spricht zu der still und ergriffen lauschenden Schar über
(Foto). Die Frankfurter Aguda vor der Raschikapelle

das alte Worms, die ersten jüdischen Zentren in Deutschland, aus den Zeiten des Rabbi Gerschom (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) und Raschi. Raschi musste, wie alle, die damals lernen wollten, nach Mainz und Worms kommen, um in der Schule des Rabbi Jakob ben Jackar (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Jakar), des Schülers des Rabbis Gerschoms, dessen Lehre in sich aufnehmen. Mit 25 Jahren kehrte Raschi nach seiner Heimatstadt zurück, wo er bis zu seinem Tode 1105, verblieb. Damit ist die Illusion der Raschi-Kapelle in ihrem Hauptteile zerronnen. Denn dieses kleine Lehrhaus wurde nachweislich erst 1624 durch David Oppenheim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)) errichtet. Aber hier auf diesem Platze stand ein älteres Lehrhaus, in dem Raschi gewiss gelernt und vielleicht auch gelehrt hat. Der Raschistuhl oben aus hartem Stein mit farbiger Lehne ist mindestens eine Reliquie aus jenem alten Bau.
Und nun stehen wir vor der eingedrückten Mauer, der Nische, die sich ad hoc für eine Frau gebildet hatte, die, mit kostbarer jüdischer Hoffnung unter dem Herzen, in der engen Gasse von einem Judenfeinde mit seiner Fuhre beinahe zu Tode gedrückt worden wäre. Ist Menschenherz Stein geworden, so bekommt die Mauer ein Herz von Fleisch und bietet einem armen bedrohten jüdischen Weib Zuflucht und Rettung… Lange genug erzählte man diese Geschichte in Verbindung mit der Mutter von Raschi und hatte dadurch keinen Schimmer von historischer Wahrscheinlichkeit. Bis man später aufgrund alter Schriften dahinter gekommen ist, dass es sich um die Mutter von Rabbi Jehuda Hachossid (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) (1200) handele. Sie kann in Worms gelebt haben. Hier kann auch Rabbi Jehuda das Licht der Welt erblickt haben, obwohl er spät in Regensburg gelebt und gelehrt hatte. Der Referent benutzt die Gelegenheit, aus dem Leben dieses Gaon (Ehrentitel für einen Rabbiner) der jüdischen Ethik zu erzählen und einiges aus seinem Hauptwerke 'Sefer Chassidim' wiederzugeben.
Ein Gang durch das Museum zeigt, dass die Gefühle der Pietät und Dankbarkeit im heutigen Worms noch nicht erloschen sind. Es ist alles aufs Beste und Schönste geordnet. Die Memor-Bücher (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Memorbuch), die Minhag-Bücher (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum), die alten, auf Pergament handgeschriebenen Gebetbücher und Machsorim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Machsor), alte Thorarollen, geschwungene Schofarhörner (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar) Judenschutzbriefe auf allen Jahrhunderten des Mittelalters (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Judenordnung), Chalizahschuhe (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chalitza-Schuh) und was sonst noch alles an stummen Zeugen einer reichen, starken und leidvollen Vergangenheit.      
Worms Israelit 30051930b.jpg (644563 Byte)Im Vorraume sind alle Talmudtraktate und Ähnliches aufbewahrt und – aufgebahrt. Bei uns sieht man solche Bücher nicht unter Glas, sondern es wird in den Jeschiwas und Lehrhäusern aus ihnen gelernt…
Gegen 11 Uhr hatten wir bereits genug gesehen und in uns aufgenommen, um uns eine Ruhe- und Frühstückspause unter den Linden und Kastanien im Garten des 'Apostelbräu' zu gönnen. Die Kamera unseres Killephotographen wie der Amateure arbeiten fleißig. Der historische Augenblick, da mein junger, kerngesunder Tischnachbar in sein Wurstbrot hineinbeißt, darf der Nachwelt nicht verloren gehen... Vom köstlichen Apostelbräu ist wohl nicht viel abgesetzt worden, gebenscht wurde aber – zumeist mit Minjan – unter jedem Baume. Die Linden und Kastanien schüttelten das alte Haupt…
Auf dem Friedhofe. Eine Stunde später sind wir auf dem alten Friedhof (vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand). Ein heiliges Zittern geht durch unser Gemüt, da wir durch das alte Gittertor gehen. Auf dem Vorgelände, bleiben wir wie auf Verabredung stehen. Man hat das Gefühl, man dürfte nicht so ohne Vorbereitung, ohne irgendeinen Preis den heiligen Boden betreten. Etwas lernen, etwas beten, wünschen gerade die Jüngsten. Es wird eine Mischna (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mischna) gelernt und Kaddisch gesagt, dann rezitiert der Leiter die für den Friedhof vorgeschriebenen Gebete, und alle sagen Wort für Wort mit größter Andacht mit. Erst jetzt wird uns der Gang leichter. Schon sehen, wir an der Grabstätte des Rabbi Meir von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), siebenzig junge und ganz junge Menschen neben einem Dutzend älterer Leute. Jugend grüßt die alten Meister, kommt, ihnen zu sagen: 'Wir leben und ihr lebet in uns, mit uns. Wir lernen eure Lehre, sprechen eure Sprache und denken eure ewigen Gedanken…'
'Es verrenkte sich die Hüfte Jakobs', aber sie war ihm nie gebrochen. Und was nur ausgerenkt ist, lässt sich wieder einrenken. Es hat sich im jüdischen Deutschland nach einer Unterbrechung von hundert Jahren manches wieder eingerenkt. Seht ihr, ihr Meister, wir kommen!
'Wir dürfen kommen. Wir kommen nicht als Altertumsforscher oder Grabschnüffler. Wir kommen als Jünger, deren Leben erblühen soll aus grasbewachsenen alten Grabhügeln!...
Darauf sind die Worte und Erklärungen des Referenten abgestimmt, indem er die Grabschrift verliest und die tragische Geschichte des großen Gefangenen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) von Enzisheim kurz erzählt. Die Erpressungsversuche von Rudolf v. Habsburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) (der Name klingt beinahe symbolisch) am lebenden Rabbi scheiterten, die Spekulation auf den toten Rabbi gelang. Ein Frankfurter Alexander Süßkind Wimpfen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen), gab sein ganzes Vermögen her, um die heilige Hülle auszulösen. 1307 kam Rabbi Meir hier zur Bestattung, in der Nähe seines großen Vaters Rabbi Baruch. Kurz darauf durfte dem Frankfurter Wohltäter der einzig gewünschte Lohn seiner Opfertat werden. Er folgte dem Meister und wurde an seiner Seite bestattet. Beide Denksteine lehnen aneinander, als würden sie sich gegenseitig stützen….
Ein paar Schritte weiter und wir haben volle hundert Jahre zurückgelegt. Wir stehen an dem etwas vereinsamt in einem Becken liegenden Grab des Rabbi Jakob Möllen, Maharil (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin) genannt. Wie ein Singen und Klingen kommt aus dem Grabhügel des Mannes, der der deutschen Judenheit, und vielleicht der Judenheit des Abendlandes, den Minhag (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag) und den Nigun (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Niggun)  gegeben hat. Hier schlägt der Referent einen Ton an, wie man ihn nur auf einem jüdischen Totenfelde, das wir 'Haus des Lebens' nennen, anschlagen darf. Er gibt Ernstes und noch mehr Heiteres aus dem Leben des Ghetto wieder, wie es sich im Buche des Maharil widerspiegelt. Das Ghetto war nicht immer in Tränen aufgelöst, es konnte auch leben und lachen und in Pausen, die die Not gewährte, Geistesschätze schaffen, für die alle Regale unsere Bibliotheken nicht ausreichen. Die Tränen und Seufzer haben in ein paar kleinen, dünnen Büchlein, Slichaus und Kinaus Aufnahme gefunden…
Ein kurzes, dankbares Verweilen am Grabe des Mannes, dem wir das Wissen um die alten Dinge in der Hauptsache verdanken, Rabbi Juspho Schammes (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), Verfasser der Wormser 'Nissimbuches'. Er kam, dieser sonderbare Mann, um die Mitte des 17. Jahrhunderts von Fulda nach Worms und hatte Wissen, Verdienste und lautere Frömmigkeit genug, um Oberrabbiner der alten Gemeinde zu sein. Er aber sagte: 'Ich will Diener des Herrn sein' und blieb Schammes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schammes) der Gemeinde Worms dreißig Jahre lang, bis er 1678 hier letzte Ruhe fand. Sein Nissim-Buch ist heute noch eine Quelle für Historiker und Romantiker. Die alten Wormser sagten aber in tiefster Ehrfurcht: 'Einer der Sechsunddreißig!...'
Ein paar Meter weiter ist die Gräberreihe der Bachrach. Ein paar Minuten stillen Gedenkens dem bedeutendsten in dieser Ehrenreihe, Rabbi Jair Chajim Bachrach (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), dem Verfasser des 'Chawath Jair' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Havat.jpg) und der Referent erzählt von den Kämpfen des großen Rabbi und seinen Beziehungen zu Frankfurt. Er folgte seinem Vater, Rabbi Schimchon, als 'dessen Nachfolger' in die Ewigkeit.
Der letzte Gruß gilt den zwölf Märtyrern (vgl. https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/aktive-in-der-region/gauss-gymnasium/wormser-juden-im-11-jh/das-pogrom-von-1096.html) an der Mauer. Mit ihrem Opfertod wurden die Schrecken des ersten Kreuzzuges 1096 (es war, wie heute, der 18. Mai, aber der erste Siwan [vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Siwan_(Monat)]) eingeleitet und sie haben hier ihr gemeinsames Grab gefunden. Die Grabschrift, bestehend aus den drei Worten Hier ruhen 12 Parnasim wirkt erschütternder als alle Lobeshymnen. Der Referent erzählt ihre Geschichte und ihren Opfergang für ihre Gemeinschaft, er war leider nutzlos. Wie eine Stimme ruft aus allen den heiligen Gräbern: 'Lebet für das, wofür wir gestorben sind!...'
Aus dem Minhag-Buch (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) ersehen wir, dass Jahrhunderte hindurch je am ersten Siwan und am Rüsttag zu Jom Kippur (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) die Vorsteher des Chewraus (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chewra_Kadischa) Rundgänge um die Mauer machen und sich dann auf das Grab der zwölf Märtyrer warfen, um hier zu beten. Es drängt uns, Ähnliches zu tun. Ein stimmbegabter Teilnehmer rezitiert an den Märtyrergräbern das Aw Horachamim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Aw_HaRachamim); sinniger Abschiedsgruß.
Im Vorgelände waschen wir die Hände und sammeln uns zu gemeinsamem Minchagebete (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mincha) unter freiem Himmel. Wie wir das heilige Gelände mit Gebet betreten haben, so möchten wir es verlassen. Der Vorsitzende der Jugendgruppe spricht das aus, was allen in dieser Minute in der Seele liegt: 'Es ist ein Ausflug von ganz eigener Art. Wir dürfen es gar nicht Ausflug nennen, man müsste anderen Namen dafür erfinden!'
Nachmittag.
Nun wandern wir, gehoben und innerlich bereichert, ziellos durch die alten Straßen. Unversehens stehen wir vor der Rheinbrücke, an deren Eingang französische Soldaten ihre letzte Langeweile ausgähnen. Hier reiht sich Gartencafé an Gartencafé. Indem wir uns ein wenig erholen und erquicken, ist ein besonders gewandter Teilnehmer mit einer kleinen Expedition ausgerückt, um ein Schiff für uns zu kapern. Das kleine Motorboot kann 64 Mann tragen. Wir sind unserer 80 und manche 'schwerwiegende' Persönlichkeit darunter. Mit einem blinden Passagier – wir haben 65 Agudisten an Bord – kämpfen wir eine Stunde lang gegen die Wellen. Bis es dem 'Herrn Kapitän' am Ruder zu bunt wird und wir wieder irgendwo an Land gesetzt werden. Wir suchen die 'versprengten Stämme', finden sie, und verlieren dabei anderes wertvolle Menschengut…
Am Bahnhofe und im Zuge findet sich alles wieder. Die Rückfahrt ist ein Schlussakkord froher Geselligkeit.
Mit dem Gesange des 'Wetaher libbenu' , anwachsend bis zur chassidischen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chassidismus) Ekstase, fahren wir in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Zweck, Sinn und Bedeutung dieses eigenartigen Ausflugs rangen nach Ausdruck und fanden ihn in der kürzesten Formel: wetaher libenu le'owdecha be'emet = 'Reinige unsere Herzen, dass sie dir in Wahrhaftigkeit dienen' (aus den Gebeten zum Schabbat)". 

    
Leserbrief zum Bericht auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)       

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Juni 1930:  "Von der Raschikapelle in Worms.
Unser Bericht im lokalen Teile (Nr. 22) über den Besuch der Frankfurter Aguda bei Raschi hat Beachtung auch in wissenschaftlichen Kreisen gefunden. Herr I. Kiefer in Worms schreibt uns u.a. :
'Ich habe mit Interesse Ihren Bericht über den Besuch in Worms gelesen. Es triff zu, dass wir die Traditionen zu wahren wissen. Es ist aber nicht richtig, dass der Stuhl (sc. Raschis Stuhl in der Raschikapelle) älter als der jetzige Bau ist, oder gar dem alten Bau entstammt. Ferner ist richtig zu stellen, dass der Gemeindevorstand aus eigener Entschließung den Bau einer Mikwoh (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe) vorgesehen hat. Anträge liegen von seiner Seite aus vor. Außer der Mikwoh haben wir einen Gang unter dem alten Friedhof aufgefunden, bei dem der Boden aus jüdischen Grabsteinen besteht.
Sodann geht uns Nr. 4 der 'Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland' (Philoverlag, Berlin) zu, die mit einem geschichtswissenschaftlichen Aufsatz über die Raschikapelle hausgefüllt ist. Nach gründlicher Untersuchung aller Quellen kommt der Autor I. Kiefer zu dem Resultate, dass alle Berichte von Juspho Schammes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes) über das frühere Bestehen eines Raschilehrhauses auf dem Platze der jetzigen Kapelle als zuverlässig anzusehen sind. Die Erneuerung des Baues durch David Oppenheim (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner))  konnte ihm von seinem Nimbus als Lehrhaus nicht nehmen."           

  
In Worms wurde eine zweite mittelalterliche Mikwe freigelegt (1930)       

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Juni 1930: "Worms, 17. Juni. Wir lesen im 'Mainzer Anzeiger': Hier wurde jetzt das zweite jüdische Frauenbad freigelegt. Beim Abbruch von zwei alten Häusern stieß man in der Hinteren Judengasse, direkt neben der alten Synagoge, auf die Anlage, die für die Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde von großer Bedeutung ist. Die Badeanlage misst im Quadrat 1,40 x 1,60 Meter. Es haben sich bisher keine Anhaltspunkte ergeben, die eine genaue Datierung des interessanten Baues ermöglichen. Die Sole des Bades liegt etwa 10 Meter unter dem Pflaster der Straße. Dieses zweite jüdische Frauenbad ist in der Anlage das gleiche wie das hinter der Synagoge, nur etwas kleiner. Bemerkenswert dürfte noch sein, dass sich in dem abgebrochenen Hause eine Badeeinrichtung der jüdischen Gemeinde gehörend, befand."             


Über eine Worms-Fahrt der Vereinigung ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Samson Raphael Hirsch-Schule Frankfurt (1931)    

Worms Israelit 25061931.jpg (641141 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. Juni 1931: "Die Woche Die Worms-Fahrt der Vereinigung ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Samson Raphael Hirsch-Schule.
Die letzte Besichtigung der Vereinigung für dieses Jahr galt Worms und seinen jüdischen Heiligenstätten, und dieser Schusspunkt war ein Höhepunkt. Von vornherein war von liebevoller und organisationsfähiger Hand die Sache so aufgelegt, dass Belehrung und Amüsement sich in einer gefundenen Mischung fanden. Ein herrlicher Ausflug durch sommerliche Felder und Fluren, zugleich aber auch ein Ausflug ins Geistige.
Punkt ½ 9 stand der schöne, bequeme Postautobus an der Friedberger Anlage, der annähernd 40 Herren und Damen aller Altersklassen aufnahm, jugendliche Greise, wie junge Damen und Herren, die mindestens seit einem viertel Jahre schon zu den 'Ehemaligen' zählen. Es ging in höchst angenehmer Fahrt auf glatten schönen Straßen durch die lieblichen Wälder des Hessenlandes die wundervolle Bergstraße hinan. Etwas unentschlossen schaute durch lichten Schleier die Sonne herab, wie es sich gehört an einem Tage, den der Kalender knallrot für den 21. Juni ausgibt. Durch saubere Dörfer, Weiler, Städtchen und Marktflecken ging die Fahrt. An verschiedenen Ortschaften grüßten uns Ehrenpforten mit einem 'Herzlich willkommen' in riesigen Kranzschleifen. Diese Willkommensgrüße galten nicht uns, sondern einem Kriegerverein, einem Sängerbund oder der Feuerwehr, die da und dort gerade ihre Fahnenweihe feierten. Um die Mittagszeit hielten wir vor dem in Sonnenglanz gehüllten Häuschen der Judengasse. Hier kann kein Postauto nicht durch, wenn sich nicht das Wunder von der 'eingedrückten Mauer' noch einmal wiederholen soll. Also ziehen wir per pedes apostolorum (= zu Fuß wie die Apostel) in fast feierlichem Marsch durch die enge Gasse und stehen bald vor dem altehrwürdigen Bau. Ein halbes Dutzend Burschen, die nicht vom Stamme Raschis (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi  sind), stellen sich uns gleich vor. Beruf: Arbeitslos. Eine kleine Unterstützung würde nicht zurückgewiesen werden. Diese erste Sehenswürdigkeit ist keine Wormser Spezialität.
Es folgt die Besichtigung der alten Stätten unter fachkundiger Führung, die sich nicht auf Holz und Stein beschränkt, sondern auch die Sprache – und die Tränen – der alten Quadern zu vermitteln sucht. Ein paar Angaben über das Alter des jüdischen Worms und der deutschen Judengemeinde überhaupt. Das heilige Sefer (hebr. 'Buch', kann für den Tenach, Mischnah oder Talmud, sowie sonstige rabbinische Literatur gelten), das Rabbi Meir von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), wahrscheinlich im Gefängnis, mit eigener Hand geschrieben hat und anderes interessiert gewaltig.
Der Chupahof (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chuppa)  gibt Anlass zur Schilderung einer jüdischen Hochzeit im Ghetto des Mittelalters nach Aufzeichnungen des Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin)
. Der tiefe, festungsartige Katakombenbau der alten Mikwah (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe_(Worms) bzw. Fotos), der längst das Wasser ausgegangen ist – es ist hier so manche Quelle versiegt – erfüllt mit heiligen Schauern vor der keine Hemmung kennenden und kein Opfer scheuenden Pflichtfreude unserer Väter und Mütter. Die sogenannte Raschi-Kapelle (Raschi und Kapelle, die Zusammenstellung klingt nach Attraktion!) ist in Wahrheit eine David-Oppenheim-Stiftung (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)) aus dem 17. Jahrhundert. Über die neuesten wissenschaftlichen Forschungen ergaben einwandfrei, dass an dieser Stelle früher schon ein Lehrhaus gestanden hat, in der Raschi, wenn vielleicht auch nicht gelehrt, so zum Mindesten gelernt hat. Der kitschig blaue Anstrich von heute hätte ihn wahrscheinlich gestört. Denn Raschi war kein Freund von vieler Tinte und sonstigem Geschmiere… Der geweihte Ort gibt Veranlassung, einiges über Raschi, der in Nordfrankreich in einem unbekannten Grab ruht, zu sagen. Sodann wird die eingedrückte Mauer ein bisschen zurechtgeschoben. Die Mär bringt sie in Verbindung mit Raschis Mutter, die aber Worms nie gesehen hat. Die Überlieferung betrifft aber die Mutter von Rabbi Jehuda Hachassid (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) in Regensburg, dem Verfasser des 'Sefer Chassidim', der wirklich in Worms geboren ist. Sein Lied erklingt uns als Sabbatschlusshymne im unvergleichlichen Anim Semirot (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Anim_Zemirot).
Diese Sendung, so winzig sie ist, wirkt symbolisch für Geschichte und Geschick des Judentums im Mittelalter: Eng und klein das Leben und voller Gefahren, aber immer geradeaus im Vertrauen zu G’tt, und wenn nötig, mit dem Kopf durch die Wand!...
Oben im Museum sind ganze Jahrhunderte in Bild, Buch, Wimpel (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mappa), Schutzbrief (vgl. "Judenschutz" unter https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzbrief_(Diplomatie)) , Memorschrift (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Memorbuch), Schofar (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar)  und Chalizahschuh (vgl. http://www.juedisches-recht.de/lex_erg_barfuser.php) niedergelegt. Im Vorraum liegen alte Talmudausgaben unter Glas. 'Nicht berühren!', warnt die Überschrift. Bei uns wird aus noch älteren Traktaten gelernt, verpönt ist nur das Nichtberühren
Nach dieser geistigen Sättigung war die Mittagspause wohl verdient. Wir sitzen im herrlichsten Sonnenschein am lieblichen Rhein und verzehren unsere Vorräte bei Sodawasser. Weiße Dampfer rauchen und fauchen. Ein Lautsprecher erzählt etwas von Hoover und dem amerikanischen Angebot. Den Bankiers unter uns schmeckt das Essen gleich besser.
Es wird dann noch einiges besichtigt, was nicht gerade zum Programme gehört, und dennoch sehr lebenswert ist. Der monumentale Luther (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherdenkmal_(Worms)) , der immer noch inmitten seiner Gruppe steht und nicht anders kann… Davor das Heyl-Museum (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heylshof) ,das uns den Wandel des Geschmacks und der Kunstrichtung vom Rokoko fast bis zur Zeit der neuen Sachlichkeit in Bildern und Möbelstücken zeigt. Dann ist es späte Nachmittagsstunde und Zeit, den großen Toten auf dem alten Friedhofe den schuldigen Besuch abzustatten.
Die Gräber liegen in idyllischer Ruhe da, umrankt von wildem Gewächs, umsummt von tausend Käfern, auch weniger romantisch bissigen Schnaken, die es besonders auf die Damen abgesehen haben. Das Totenfeld ist ein Labyrinth. Wer nicht öfters hinkommt, irrt hilflos herum. Von den Hügeln keine Spuren mehr, und der eine Stein genauso schwarzgrau und verwittert wie der andere. Keine geordneten Reihen, und die Intervalle zwischen Stein und Stein, sind oft so groß, dass man vermuten muss, dazwischen seien noch andere Gräber verwischt worden. Stadt, Gemeinde und jüdische Öffentlichkeit sind etwas spät darauf gekommen, diesen 'guten Ort' in ihren liebevollen Schutz zu nehmen. Es ist mancherlei zur Systematisierung der Gedenksteine, die in früheren Jahrhunderten so systemlos durcheinander gestellt wurden, wie der Tod seine Ernte hält, geschehen, aber die meisten Inschriften sind doch absolut unleserlich.
Gleich zu Anfang das Grabmal des Rabbi Meir von Rothenburg (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), und daneben an dasselbe gelehnt, das des Frankfurter Philanthropen, der die Gebeine mit seinem ganzen Vermögen aus dem Gefängnis zu Ensisheim, Rabbi Alexander Süßkind Wimpfen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen). Am Yom Kippur, so meldet die Grabschrift, hat dieser große Frankfurter seine Seele ausgehaucht, und tags darauf wurde er in Worms, seinem letzten einzigen Wunsche gemäß, an der Seite des großen Rabbi bestattet. Keiner kann das Grab des Maharam (hebräisches Akronym von 'Unser Lehrer Rabbi Meir') besuchen, ohne das des Wohltäters zu grüßen… Der Vater des Maharam, Rabbi Baruch Ben Rabbi Meir, muss etwas zurücktreten; er steht auch hier im Schatten des großen Sohnes…
Wir verbeugen uns in Ehrfurcht vor der Ruhestätte der 'zwölf Parnassim' (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas_(Judentum)) an der Mauer, die mit ihrem Freitod hier das Blutbad des ersten Kreuzzuges (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Judenverfolgungen_zur_Zeit_des_Ersten_Kreuzzugs) am 1. Siwan (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Siwan_(Monat)) 1096 eingeleitet haben. Nach einigem Suchen, das hier unvermeidlich ist, stehen wir auch am Grabe des Maharil (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), des Schöpfers und Schlüsselbewahrers von Minhag (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) und Nigun (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Niggun)) vor 500 Jahren. Als Todestag wird der 22. Ellul (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Elul) angegeben. Ein stummer Gruß für das Grab des Rabbi Jaspho Schammes (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), dieses heiligen, sonderbaren Synagogendieners mit den Qualifikationen eines Oberrabbiners, dessen Aufzeichnungen wir das spärliche Wissen um die Wormser Vergangenheit danken. Noch einige Gräber, aus denen Blumen heiliger Erinnerungen wild herausschießen, fesseln das Auge und der Besuch findet im Vorgelände mit einem Minchah-Gebet (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mincha) unter freiem Himmel seinen Abschluss.
Die Rückfahrt führt eine große Strecke am Rhein entlang. In den Städtchen und Dörfern, die vormittags im frischen Fahnenschmuck der Festzüge harrten, gab es jetzt Jahrmarktstrubel und Tanz. In einer Gartenwirtschaft direkt vor den tanzenden Paaren halten wir Rast an einer gut improvisierten Kaffeetafel. Für den Rest der Fahrt hat aber die jüngere Jugend das Wort. Heiterkeit, Frohsinn und Sangesfreude halten die 'Ehemaligen' in edler Geselligkeit beisammen bis zu den Toren Frankfurts, die man mit dem sinkenden Tag erreicht. Das Charakteristische dieses Ausflugs: Die Jüngsten waren beim akademischen Teil angesichts der Stätten und Gräber vom gleichen Ernst und gleicher Weihe ergriffen wie die Ältesten. Die Älteren und Ältesten dafür auf der sangesfrohen Rückfahrt so jung und glücklich wie die Jüngsten. Und damit war der Zweck des Ganzen in schönster Weise erreicht."            

 
Neue Publikation zur Geschichte der Stadt Worms (1932/34)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. April 1934: "Aus der Geschichte der Stadt Worms. Zusammengestellt von der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte. Worms 1932. 243 Seiten.
In diesem Buch, das einen aufschlussreichen Gang durch die Geschichte der Stadt Worms darstellt, befindet sich, was uns hier am meisten interessiert, ein Kapitel über die Juden in Worms. In gedrängter Form finden wir die Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde von ihren Anfängen – 1034 bestand bereits eine blühende Gemeinde mit großer Synagoge – bis ins 18. Jahrhundert hinein. Leid und Freude der mittelalterlichen und neuzeitlichen Judengemeinde Worms sprechen in kurzen, eindrucksvollen Worten zu uns. Die weitere Geschichte ist fortgelassen. Auch in anderen Kapiteln des Buches werden die Wormser Juden erwähnt, so in dem von den Kreuzzügen und in dem 'Worms, die Stadt der Treue', wo davon berichtet wird, dass Heinrich IV. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) mit den Wormser Bürgern auch die Juden für die ihm bewiesene Anhänglichkeit belohnte. Eine weitere Erwähnung der Juden hätte man auch in den Kapiteln über die Bevölkerung der Stadt im Mittelalter und ihren Handel und Gewerbe erwartet. Unter dem dem Buche beigegebenen reichhaltigen Bildermaterial finden wir auch eine Abbildung der alten Synagoge."         

    
Artikel über "Das jüdische Worms und seine Sehenswürdigkeiten" (1933)          

Artikel in der "Gemeindezeitung für die Israelitischen Gemeinden Württembergs" vom 1. Mai 1933: "Feuilleton. Das jüdische Worms und seine Sehenswürdigkeiten Wir entnehmen der Zeitschrift 'Der Jugendbund' folgende Artikel:
Noch immer ist es zu wenig bekannt, dass die sagenumwobene Nibelungenstadt am Rhein nicht nur die älteste jüdische Gemeinde Deutschlands in ihren Mauern birgt, sondern auch in ihren jüdischen Altertümern ein Bild jüdisch-mittelalterlichen Lebens so treu und unverwischt erhalten hat, wie man es zum zweiten Male wohl in ganz Europa nicht zu finden vermag. Hier braucht man der Fantasie nicht erst Flügel leihen, nicht in mitternächtiger Stunde Schatten der Vorzeit zu beschwören, um den Geist längst entschwundener Zeiten wieder zu erleben. Denn hier weht er im hellen Licht des Tages, hier umfängt er den geschichtskundigen Juden sowohl mit Schauern tiefer Ehrfurcht wie mit Wonnen seelischer Erhebung. Hier ist einmal zur vollen Wahrheit und Wirklichkeit geworden das alte Wort 'Die Steine reden'. Und sie reden eine so laute und eindringliche Sprache, dass, wer sie einmal gehört hat, sie nimmer vergisst.
Betrachten wir sie in aller Kürze.
Zunächst die Judengasse. Was hat sie nicht alles an Freud und Leid erfahren! Hier tagte die berühmte Rabbiner-Versammlung des Jahres 1028, an deren Spitze Rabbenu (Rabbiner) Gerschon (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) stand, 'das Licht des Exils'. Hier wurden 1096 mehrere hundert jüdische Menschen erschlagen als erste Opfer der Kreuzzüge (siehe Artikel oben von S. Mannheimer) . Hier forderte mittelalterlicher Wahn 1349 mehr jüdische Blutopfer als der unerbittliche 'schwarze Tod' (vgl. . https://de.wikipedia.org/wiki/Judenverfolgungen_zur_Zeit_des_Schwarzen_Todes)  Hier führte der Pöbel 1614 ein trauriges Nachspiel des Fettmilchaufstandes (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Fettmilch-Aufstand) auf und trieb sengend und brennend die Juden aus ihren Häusern zur Stadt hinaus.
Die Synagoge stammt aus dem Jahr 1034, wie der zur Rechten des schönen Hauptportals in die Mauer eingelassene Stein in lapidarem Stil meldet. Es ist ein schmuckloser, doch durch seine schlichte Einfalt und Harmonie wohltuender romanischer Bau, der durch zwei mit prächtigen                               
Worms GemZeitung Wue 01051933s.jpg (112235 Byte)Kapitälen geschmückte Säulen in zwei kreuzgewölbte Schiffe geteilt ist. Die heilige Lade mit der schmiedeeisernen Tür, über der vier goldenen Kronen prangen – an 'Sprüche der Väter' 4, 17 erinnernd (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sprüche_der_Väter)  – enthält viele altertümliche Thorarollen. Die älteste derselben soll R.(abbi) Meir von Rothenburg (vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) in Ensisheim als Gefangener des Kaisers Rudolf (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) geschrieben und auf wunderbare Weise in den Besitz der Wormser Gemeinde gebracht haben. Vor der Lade hängt 'die ewige Lampe' mit zwei Flammen 'den zwei unbekannten Fremden' geweiht, die ihr Leben für die Gemeinde geopfert und am 7. Pessachtage (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pessach) 1348 den Feuertod erlitten haben.
An die Männersynagoge schließt sich rechtwinklig die Frauensynagoge aus dem Jahre 1213 an, in frühgotischem Stil, mit einem schönen Hauptportal. Außer zahlreichen alten Leuchtern verdient der dem Leuchter des Zions nachgebildete (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Menora und https://de.wikipedia.org/wiki/Zion) aus dem 17. Jahrhundert besondere Erwähnung.
An die Westwand der Synagoge schließt sich eine Kapelle, die nach Raschi benannt ist, der im 11. Jahrhundert hier lernte und lehrte. In ihr sieht man den uralten Stuhl aus Stein, auf dem der Meister gesessen hat. – Das Frauenbad im Hof der Synagoge ist ein zehn Meter tiefer unterirdischer Bau, der auf den Fundamenten einer Zisterne aus der Römerzeit im 11. Jahrhundert in frühromanischen Formen errichtet worden ist.
Auch das ehemalige Spiel- und Tanzhaus der Gemeinde ist auf dem Synagogenhof zu sehen.
Nach der historischen literarischen und kunsthandwerklichen Seite ergänzt das kleine, aber inhaltsreiche Museum in der ehemaligen Ratsstube der Gemeinde das Gesehene in überaus interessanter Weise. Hier kann man die ältesten bis auf Kaiser Karl V. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_V._(HRR)) zurückreichenden Urkunden, Schutzbriefe, Hypothekarbücher und hochwertige uralte Handschriften sowie altes Silbergerät in prächtiger Ausführung sehen.
Mit dieser Schilderung ist der Schatz der Altertümer und Sehenswürdigkeiten des jüdischen Worms nicht erschöpft. Noch ist vor allem der Friedhof zu nennen, der zu den ältesten in Europa gehört und eine große Anzahl Heroen jüdischer Wissenschaft und Märtyrer jüdischen Glaubens birgt.
Stolz blickte die Gemeinde Worms auf ihre große Vergangenheit zurück, die hier lebendig vor ihren Augen steht. Dieser Stolz teilt sich auch dem jüdischen Besucher mit. Dr. Holzer

Vgl. noch zu Rabbiner Gerschon: https://schumstaedte.de/entdecken/memorstein-fuer-gerschom-ben-jehuda/  https://www.deutsche-biographie.de/sfz98632.html 
Zur Geschichte von den zwei Gästen, denen das Ewige Licht geweiht ist, siehe Artikel oben.  

     

     

     

     

      

 

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Stand: 30. Juni 2020